Foto: Schlussapplaus, Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg, Bremer Philharmoniker, Laeiszhalle Hamburg © Schmidt
Verdi ohne Oper, kann das gut gehen? Ja, und wie! Ein musikalisches Feuerwerk fegt durch die Laeiszhalle, gemeinsam mit vier Solisten und den Bremer Philharmonikern lässt der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg das italienische Opernmeister-Requiem in all seiner mächtigen Pracht erblühen. Verdi braucht eben nur eine Prise Wagner…
Giuseppe Verdi: Messa di Requiem
Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg
Bremer Philharmoniker
Gabriela Scherer, Sopran
Eva Vogel, Alt
Sung Min Song, Tenor
Albert Dohmen, Bass
Hansjörg Albrecht, Leitung
Laeiszhalle, Hamburg, 18. November 2023
von Johannes Karl Fischer
Manchmal hat man einfach Glück im Pech. Knapp eine Stunde vor Konzertbeginn: „Wegen einer Betriebsstörung fahren die Züge auf dieser Linie zurzeit unregelmäßig.“ Stimmt nicht. Das hätte heißen müssen: „auf dieser und mindestens zwei anderen Linien“. Statt 15 Minuten dauert meine Fahrt zur Laeiszhalle nun fast eine Stunde, davon knapp die Hälfte in einem sich der Alster entlang stauenden Taxi. DB-Verhältnisse neuerdings auch beim HVV…
Prompt 5 Minuten nach dem fahrplanmäßig ersten Ton des Verdi-Requiems spaziere ich mit einigen Dutzend anderen Besuchern die Treppe in die Laeiszhallen-Galerie hinauf. Die Nacheinlasslogen sind schon gut gefüllt, es bleiben noch die Hörplätze. Und keine zwei Minuten lang kann ich der Versuchung widerstehen: Hinstellen. Das ganze Verdi-Requiem lang. Meine Begleitung guckt mich mal wieder mit bewunderndem Blick an, von meiner Liebe zu stundenlangen Stehplatzopern teilte sie schon immer nur die musikalische Seite. „Tun dir nicht die Füße weh?“ fragt sie später, wie so oft nach Feierabend.
Nein, ganz im Gegenteil, das war ein einziges akustisches Wunder auf dem neu entdeckten Laeiszhallen-Galerie-Stehplatz! Denn kaum meinen Platz eingenommen, wurde ich mit mächtiger Energie in den Strudel des Dies Irae hineingerissen wie in einen fesselnden Feuerzauber. Dank sei nicht nur der erstklassigen Laeiszhallen-Akustik, sondern vor allem Hansjörg Albrechts musikalischem Feuerwerk. Als stünde dort ein allmächtiger Göttervater samt pfeifenden Piccoli und drei paukenden Trommelschlägen, welche die zornige Macht seines Speers durch den Saal schleudern!
Verdis Requiem liegt der Oper nicht fern, sagt man so… Das war kein Requiem mit opernhaften Zügen, das war ein weit geöffnetes Tor in die mitreißenden Fluten eines Otellos oder gar einer Strauss-Elektra.
Ein immersives Klangerlebnis erster Ordnung! Verdi völlig beyond himself…
Auch der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg zeigte wieder einmal seine Spitzenklasse. Vor allem die Schlussfuge wurde zu einem feierlichen Singfest, das war die Kunst des Kontrapunkts in ihrer reinsten Vokalform! Die umwerfenden Wutausbrüche gelangen ebenso furios wie das feierliche Sanctus, an anderen Stellen erfasste selige Ruhestimmung sanft den Saal. Einen dermaßen differenzierten Klang würde man auch dem Staatsopernchor am Gänsemarkt wünschen…
Mächtig trug auch Albert Dohmen die donnernde Bass-Partie auf seinen stimmlichen Schultern. Der einstige Bayreuth-Wotan zeigte sich als ebenbürtiger Michael-Volle-„Einspringer“ und dominierte das Verdi-Requiem wie ein unangefochtener Herrscher Wallhalls. Ihm gegenüber stand mit Sung Min Song ein wunderbarerer Verdi-Tenor der ersten Liga. Seine vielseitige Stimme schien für dieses Repertoire prädestiniert: Die Spitzentöne stets stark und sauber, auch in den tiefen brillierte er mit rundem und farbenfrohem Gesang. Als würde er hier gleich auf „La donna è mobile“ einstimmen wollen…
Ganz am Schluss gab es noch eine richtig dicke Überraschung: Gabriela Scherers sonnenhell brillierendes Sopran-Responsorium. Wie befreit sang sie mit strahlender Leidenschaft die Libera me-Linien, legte sich sanft auf das musikalische Chorpolster wie eine allmächtig zum Gebet einstimmende hohe Priesterin. Die Mezzosopranistin Eva Vogel schenkte dem Gesamtklang eine schöne reife erdige Note mit souveränen Spitzentönen.
Mit diesem Requiem feiert der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg ein glorreiches Verdi-Fest… und das ganz ohne eine einzige Opernbühne! Ob die Staatsoper am Gänsemarkt da mithalten kann? An jedem anderen Haus wäre Requiem vs. Don Carlos doch eine klare Sache…
Johannes Karl Fischer, 19. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Den Artikel von Johannes Karl Fischer kann ich in jeder Hinsicht teilen. Auch wir durften dieses „akustische Wunder“ am 18. November in der Laeiszhalle erleben.
Glücklicherweise waren wir nicht in das beschriebene Verkehrschaos geraten und konnten so an der charismatischen Einführung in das Requiem durch Hansjörg Albrecht teilnehmen.
Meine ursprüngliche Voreingenommenheit Verdis Opern gegenüber verflog schnell und ich geriet in mehrfacher Hinsicht in den Bann dieser fulminanten Aufführung:
Die faszinierende dynamische Bandbreite, vom flüsternden pianissimo bis hin zu den extremen fortissimo-Ausbrüchen wie u.a. im Dies irae, bewältigte dieser Chor mit Bravour und außergewöhnlichen Klarheit und Brillanz. Den polyphonen Partien (Fuge, fugati) steht plötzlich die Einstimmigkeit gegenüber, rasende Tempi und wieder andächtige Ruhe, die faszinierenden Modulationen, all das verlangt den Chorsängern und dem herausragenden Dirigenten Einiges ab.
Diese Interpretation war ein absoluter Glücksfall und verschaffte uns viele unvergessliche „Gänsehautmomente“. Unbedingt erwähnen möchte ich das Orchester, das ausgesprochen filigran diesen wunderbaren Chor nicht nur begleitete, sondern mit ihm immer wieder in einen Dialog trat. Fazit: Dieser Abend hat mich auf Verdi neugierig(er) gemacht, ebenso auf noch weitere, sicherlich spannende Aufführungen des Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chores Hamburg. Bravo und Danke!
Doris Wickbold-Schmitter