Innovatives Regiekonzept im Zeichen von Covid mit musikalischen Höhepunkten
Arena di Verona, 26. August 2021
Giuseppe Verdi, Nabucco
von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Fotos)
Die römische Arena von Verona – das größte und am besten erhaltene antike Freilufttheater der Welt – hat mit der Wiederaufnahme von Live-Aufführungen trotz der Covid-Pandemie Pionierleistungen erbracht: Es gelang in dieser Saison, nicht nur (im Gegensatz zu 2020) wieder vor Publikum zu spielen, sondern sechs verschiedene Opern in 42 Vorstellungen auf die immense Bühne des Amphitheaters zu bringen und mit einigen der prominentesten Namen der Opernszene – Jonas Kaufmann, Anna Netrebko, Plácido Domingo – aufzuwarten. Riccardo Muti, der zweifellos beliebteste Dirigent Italiens, dirigierte die festliche Premiere der „Aida“ zum 150-Jahr-Jubiläum der Uraufführung. Üblicherweise werden in der Arena 13 500 Plätze angeboten; pandemiebedingt sind es dieses Jahr nur 6000, mit zahlreichen freien Sitzen, rigoros durchgeführter Eingangskontrolle und streng durchgehaltener Maskenpflicht.
Im Zeichen von Covid wurden in Verona völlig innovative, geradezu revolutionär anmutende Regiekonzepte erarbeitet: Statt der üblichen gigantischen Bühnenbilder, die Jahr für Jahr selbst die Zuschauer in den letzten Rängen beeindruckten, wurde mit atemberaubend realistischen, High-Tech-3-D-Projektionen (konzipiert von der Lichtdesigner-Gruppe „D-Wok“) gearbeitet, welche einen raschen, reibungslosen Wechsel der Schauplätze ermöglichten. Der Chor – bekanntlich besonders wichtig im „Nabucco“ – wurde mit strikter sozialer Distanz zwischen den Sängerinnen und Sängern auf den Stufen der Arena platziert, während die Darsteller auf der Bühne (üblicherweise spielend und zugleich singend) als maskierte Pantomimen agierten.
So auch bei der Neuinszenierung des „Nabucco“. Auch die letzte, ebenfalls hervorragende, höchst intelligente „Nabucco“-Inszenierung versetzte die Oper aus dem biblisch-babylonischen in einen anderen historischen Kontext – nämlich die kurzzeitige („Le cinque Giornate di Milano“) Befreiung Mailands von der habsburgischen Herrschaft mit einem bespielbaren Modell der Mailänder Scala, in dem dann „Nabucco“ als altmodisches Kostümdrama aufgeführt wurde. 2021 ist alles anders: Der hyperrealistisch, wie ein schonungslos harter Schwarzweißfilm angelegte „Nabucco“ spielt in einem Konzentrationslager, hinter meterhohen Stacheldrahtverhauen und mit meterdicken Betonmauern; die Lampen an den Elektrozäunen der KZs mit ihren Betonpfosten, gewundenen Eisenhaltern und den schummrigen Lampen wurden akribisch nachgebildet. In diesem grauenerregenden Bühnenbild spielten sich die brutalen Szenen ab, die wir aus Fotos und Schilderungen kennen: die deportieren Juden werden ihrer Koffer beraubt, ihre Habseligkeiten ausgeschüttet, sie werden von erschreckend realistisch kostümierten KZ-Wächterinnen niedergeschlagen, Soldaten unverkennbar in deutscher Wehrmachtsuniform richten ihre Gewehre auf die Häftlinge, selbstgefällig paradieren in schwarzen Uniformen und Ledermänteln SS-Offiziere.
Zur realistischen Darstellung gehört ein großes Fest, bei dem schlanke Mädchen, alle schneeweiß gewandet und durchwegs mit blonden Perücken, vor dem Champagner schlürfenden SS-Kader eine läppische Tanzvorführung mit Ringen absolvieren – vor dem Hintergrund riesiger Statuen im Stil der faschistischen bzw. nationalsozialistischen Kunst. Den grausigen Höhe- oder Tiefpunkt erfährt die Inszenierung, als die jüdischen Häftlinge mit letzten Akt, kurz vor ihrer Befreiung gezwungen werden, sich zu entkleiden und in die Gaskammer getrieben werden.
Bemerkenswerterweise wurde diese und wurden andere Inszenierungen in Zusammenarbeit mit italienischen Museen durchgeführt, im Fall des „Nabucco“ mit dem Landesmuseum für das italienische Judentum und die Shoah in Ferrara, der „Turandot“ dem Museum für chinesische Kunst und Ethnographie in Parma, der „Aida“ dem ägyptischen Museum in Turin. Im Programmheft werden, als Teil dieses klugen neuen Konzepts, jeweils nach der Inhalts- und Besetzungsangabe im Programmheft, diese Museen jeweils vorgestellt.
Dass der israelische Dirigent Daniel Oren, einer der großen Verdi-Spezialisten, der bereits die letzte „Nabucco“-Inszenierung dirigiert hatte, diese so realistisch auf die jüngste jüdische Geschichte eingehende Produktion musikalisch betreute, verlieh diesem Abend eine zusätzliche Dimension. Vielleicht verlieh Oren seinem Dirigat ein zusätzliches gewisses Extra, das diese Vorstellung nicht nur szenisch-inhaltlich sondern auch musikalisch so erschütternd machte. Jedenfalls wurde das unsterbliche „Va’ pensiero“ einzigartig subtil und einfühlsam gebracht – aufschwellend zum musikalischen Hoffnungsstrahl und dann ins Nichts ausebbend. Das Arena-Publikum spendet, wie ich als jahrelanger Verona-Habitué berichten kann, diesem Chor jeweils minutenlangen Applaus und erzwingt ein „Encore“ (selbstverständlich auch diesmal) – aber noch nie habe ich ein Publikum in der Arena bei einer Inszenierung ergriffener erlebt. Verständlich.
Die sängerische Glanzleistung erbrachte die aus Neapel stammende, international bekannte Anna Pirozzi mit einer gewaltigen stimmlichen Leistung und trotz überragender Stärke fast seidenem Wohlklang. Als Gegenstück und dennoch in derselben Liga gab der mongolische Bariton Amartuvshin Enkhbat den Nabucco – stets kontrolliert und zurückhaltend aber mit samtener Schönheit, baritonalem Schmelz. Überragend der Zaccaria des polnischen Bassisten Rafał Siwek – großartig leidenschaftlich und dominierend. Ein kongeniales Paar bildeten die Fenena der italienischen Mezzosopranistin Annalisa Stroppa mit einer höchst musikalischen Stimme und der Ismaele des Triestiner Tenors Riccardo Rados, der das Publikum mit kontrollierter, niemals forciert sondern stets harmonisch klingender Stimme begeisterte.
Dr. Charles E. Ritterband, 27. August 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Musikalische Leitung; Daniel Oren
Regie: Michele Olcese
3-D-Projektionen: D-Wok
Nabucco: Amartuvshin Enkhbat
Ismaele: Riccardo Rados
Zaccaria: Rafał Siwek
Abigaille: Anna Pirozzi
Fenena: Annalisa Stroppa
Hohepriester des Baal: Nicolò Ceriani
Abdallo: Carlo Bosi
Anna: Elena Borin
Orchester und Chor der Arena di Verona
Sehr geehrter Herr Dr. Ritterband,
da muss ich Ihnen leider widersprechen. Die Inszenierung war an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten. Verdi hätte sich im Grabe umgedreht.
Mit freundlichen Grüßen
Rainer Gatzmaga
Alles nur furchtbar. Statt einer aufbauenden Stimmung nur Depressionen vermittelt. Schade für den Abend.
Angie
Entsetzliche, unvorstellbare Szenen. Eine große Enttäuschung, wir besuchen wohl für längere Zeit keine Aufführung mehr in Verona.
Domi
Ich weiß nicht, was Herr Dr. Ritterband gesehen hat .
Diese grauenhafte Inszenierung passt nicht zu der wunderbaren Arena.
Statt Mund- Nasenschutz besser Augenbinden.
Musik super, schade.
Jörg Wittmaak
Ich kann mich nur anschließen und widerspreche Herrn Dr. Ritterband aufs Heftigste.
Eine grauenhafte Inszenierung, räumlich und zeitlich völlig aus dem Rahmen gefallen. Am Besten man schloss die Augen und genoss lediglich die Musik und die Darbietung der Sänger. Aber dafür braucht man nicht nach Verona! Gut, dass wir noch Aida auf dem Programm hatten!
E. Hettich
Meinen Vorrednern schließe ich mich an. Ergänzend sei gesagt, dass die zutiefst humanistische Botschaft Verdis durch die gar nicht intelligente Inszenierung außerdem aufs Übelste verfälscht wird: Während in der Verdi-Story die finale Bekehrung Nabuccos (alias Nebukadnezar, alias KZ-Lagerkommandant) vom Tyrannen zum Menschen gelingt, ist diese Wandlung bei dem faschistischen Befehlshaber über ein Vernichtungslager einfach nicht plausibel. Bei Verdi konvertiert Nabucco vom assyrischen zum hebräischen Glauben und erkennt nach seiner Verblendung das Verbrecherische seines Handelns an den Gefangenen (alias Hebräer, alias jüdische Häftlinge). Das ist einfach nicht stimmig bei Michele Olcese – und zwar gerade w e g e n der Entscheidung für die vermeintlich moderne Art seiner Inszenierung. Sehr bedauerlich, dass auch der Rezensent dies verschweigt. Der Abend (1.9.2021) war nur dank der musikalischen Eindrücke zu ertragen. Die allerdings waren unbestreitbar ein Genuss – solange man die Augen geschlossen hielt.
Michael F.
Ja, einfach nur grausam !!!! Dann doch lieber wieder zu „EROS“. Schaaade !
Petra Hensel