Foto: © Dominic Büttner
Opernhaus Zürich, 29. Juni 2019
Giuseppe Verdi, Nabucco
von Charles E. Ritterband
Wer je Zweifel daran gehegt haben sollte, dass das Opernhaus Zürich zu den absoluten Spitzenhäusern weltweit gehöre – dieser Abend dürfte diese Tatsache unwiderruflich belegt haben. Eine derartig makellose Perfektion ist selbst in den renommiertesten Opernhäusern alles andere als alltäglich: In den Stimmen der Protagonistinnen und Protagonisten, der Verve des Orchesters und ihres Dirigenten, dem Bühnenbild, der Inszenierung und den Kostümen, ja schliesslich in den schauspielerischen Details. An diesem Abend in der tropisch heißen Limmatstadt stimmte einfach alles – und ließ keine Wünsche übrig. Das sonst doch bisweilen eher spröde Zürcher Publikum honorierte diese von der ersten bis zur letzten Note packende, dynamische Aufführung und vor allem die fantastischen Sänger mit enthusiastischem Beifall.
So viele Vorhänge habe ich in Zürich erst selten erlebt. Zu verdanken war dieser musikalisch-szenische Höhenflug in erster Linie dem Mann am Dirigentenpult, Fabio Luisi – Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich, Garant höchster musikalischer Qualität. Was er aus der vorbehaltlos präsenten Philharmonia Zürich aus diesem frühen Verdi herausholte, war beachtlich: trocken, dramatisch, temperamentvoll und doch subtil, schnörkellos, ohne jeglichen Ballast – sehr zürcherisch eben. Und Verdi scheint diesem genuesischen Maestro ganz besonders zu liegen.
Der deutsche Bariton Michael Volle, bisher vor allem bekannt als brillanter Wagner-Interpret, gab Zürich sein Rollendebut in der Titelrolle des „Nabucco“. Er überzeugte nicht nur sängerisch, sondern auch schauspielerisch, vom ungarischen Regisseur Andreas Homoki mit sicherer Hand geleitet. Vor allem im vierten Teil, als Nabucco aus seiner temporären geistigen Umnachtung erwacht, steigert sich Volle mit ungehemmter baritonaler Wucht zu überragender Intensität. Schon am Ende von Akt Zwei, als sich der babylonische Herrscher zum Gott erklärt, erreicht Volle gleichsam übermenschliches Format, so wie es die Rolle verlangt. Als er dann wieder zu neuen Kräften kommt und zugleich zu seiner neuen Überzeugung gelangt, mit der er nunmehr den Gott der Hebräer anerkennt, gewinnt auch seine Stimme erneut an Kraft.
Doch die wohlklingendste Stimme brachte der andere bewährte Wagner-Interpret, Georg Zeppenfeld, in der Rolle des israelitischen Hohepriesters Zaccaria auf die Bühne. Sein warmer, geschmeidiger Bass bewältigte weitgehend mühelos den Wechsel vom Wagner-Repertoire in das eher auf Legati und melodische Bögen beruhende italienische Fach. Während er anfangs hörbar mit den trickreichen Höhen dieser Basspartie zu kämpfen hatte, lief er in der wunderbaren Preghiera „E canti a te sacrati“, umspielt von obligaten Celli, zur Höchstform auf – vom kenntnisreichen Publikum mit anerkennendem Beifall honoriert.
Die Römerin Veronica Simeoni gab die zum Judentum bekehrte Fenena in ihrem cremig-warmen Mezzo in vollendeter Harmonie mit ihrem Liebhaber Ismaele (Benjamin Bernheim), der diese Partie mit all dem tenoralen Schmelz schmückte, die sie erfordert. Die eigentliche Hauptfigur dieses Werks – dominant und mit wesentlich mehr und umfangreicheren Arien ausgestattet als ihre Halbschwester Fenena – ist die sich staatsstreichartig zur babylonische Herrscherin aufschwingende, dem Ziehvater Nabucco brutal die Krone entreissende Abigaille.
Die Russin Anna Smirnova bewältigte die gefürchtete Partie mit beträchtlichen anfänglichen Schwierigkeiten: Bei ihrem ersten Auftritt klang sie seltsam gepresst, und in den Spitzentönen geradezu schmerzhaft distonierend, doch schaffte sie es, sich in den folgenden Szenen frei zu singen und sich zu beträchtlichen Leistungen aufzuschwingen. Eine große Stimme die wie sie auch selbst in ihrer Erscheinung wie ein Schlachtschiff daherkommt und – wie es ja auch die Handlung erfordert – alles an sich reisst, bis zum Untergang am Ende. Souverän dominierte diese Abigaille das Geschehen, dominant, ja geradezu furchterregend.
Der Regisseur Homoki situiert Verdis dritte Oper, die ihm den Durchbruch zum Erfolg gebracht hatte, mit aufwendigen, prachtvollen Kostümen (Wolfgang Gussmann/Susana Mendoza) in der Zeit ihrer Entstehung: Im Risorgimento, einer Epoche des Umbruchs, in der sich die Italiener die Unabhängigkeit vom Habsburgerreich erkämpften. Die Parallele zu den unterdrückten Hebräern liegt auf der Hand, und sie wird oft bemüht. Das weltberühmte „Va pensioro, sull‘ ali dorate“, das sehnsuchtsvolle Lied der exilierten und unterdrückten Hebräer, wird denn auch immer wieder zur „geheimen Nationalhymne“ Italiens hochstilisiert – von wurde selbst von der padanischen (norditalienischen) Separatistenbewegung vereinnahmt und als deren politisches Kampflied missbraucht.
Obwohl ja Verdi bekanntlich durchaus zur Symbolfigur des Risorgimento, der italienischen Einigungsbewegung gemacht wurde – „V.E.R.D.I“ (als Akronym für „Vittorio Emmanuele Re D’Italia“) wurde damals als Graffiti auf zahllose Hauswände gepinselt – wäre es ein Anachronismus, „Va pensiero“ Verdis Beitrag zum Risorgimento zu betrachten. Denn damals (1842 bei der Uraufführung an der Mailänder Scala) war der Komponist noch nicht politisch engagiert, das kam erst später. Dann, im Revolutionsjahr 1848, schrieb Verdi an den Librettisten Piave: „Italien wird frei sein, vereint…“. Da feierten ihn auch seine begeisterten Fans als „Padre della Patria“ – mit einer gewissen Berechtigung. Doch der patriotische Mythos um Nabucco gründete auf einer im Nachhinein entstandenen Konstruktion einer imaginären Vergangenheit – identitätsstiftend im Zuge des italienischen „Nation Building“.
Doch im „Nabucco“ ging es eindeutig nicht um unterdrückte Italiener und dominante Babylonier – sondern eben wirklich um Hebräer und das beherrschende Babylon. Und: „Va Pensiero“ wäre als Hymne denkbar ungeeignet – in Melodie und Wortlaut. Es ist ein Lied des Schmerzes und der Sehnsucht, nicht ein Aufruf zum heroischen Aufstand. Dies bringt denn auch der hebräische Oberpriester Zaccaria deutlich zum Ausdruck – er verurteilt scharf diesen wehmütigen Gesang seines Volkes als „weibisch“ und „weinerlich“ (Oh qui piange? Di femmine imbelli…).
Guter Regieeinfall: Regelmässig erschienen zwei kleine Mädchen, welche die beiden Töchter Nabuccos verkörperten – Fenena und ihre Halbschwester Abigaille. Sie verkörperten gleichsam eine Rückblende in die (harmonische) Kindheit der beiden später tödlich verfeindeten Frauen.
Diese phänomenale Nabucco-Produktion bot nicht nur vollendete musikalische, sondern auch überragende optische Ästhetik.
Die Choristinnen, welche die Babylonierinnen verkörperten, trugen ausladende smaragdgrüne, seidenglänzende Gewänder, die Männer schwarze Fräcke und Zylinder, während die gefangenen Hebräer in schlichte, khakifarbene Arbeitergewänder gekleidet waren. Und das hervorragende Bühnenbild (Wolfgang Gussmann) war genial in seiner Schlichtheit, Schönheit und variablen Verwendbarkeit: Eine grosse ebenfalls smaradgrüne Marmorwand, die je nachdem als Trennwand oder Hintergrund wirkte, vor der die Chöre und die Protagonisten effektvoll zur Geltung kamen. Und als sich Nabucco zum Gott erklärte, brachen nicht wie in anderen Inszenierungen Flammen und Blitze aus der Kulisse, erschien keine Schrift an der Wand – sondern die grüne Marmorfläche versank im Erdboden.
Dr. Charles E. Ritterband, 30. Juni 2019, für
klassik-begeistert.de und klassi-begeistert.at
„Das Habsburgerreich und die Parallele zu den unterdrückten Hebräern.“ Die Habsburger haben leider Protestanten deportiert, aber keine Italiener oder andere Völker. Kaiserin Zita sprach einmal im Fernsehen vom Gift des Nationalismus. Eine Sprache ist nicht staatenbildend, sonst dürfte es nicht das Burgenland, die Schweiz oder Kanada geben. Nach dem Zerfall des Hauses Österreich begannen die teils blutigen Auseinandersetzungen zwischen Italienern und Kroaten, Rumänen und Ungarn, Kroaten und Serben.
Lothar Schweitzer