Laeiszhalle, Hamburg, 7. Oktober 2020
Grigori Lipmanowitsch Sokolow, Klavierabend
unter anderem:
Wolfgang Amadeus Mozart
Präludium (Fantasie) und Fuge C-Dur KV 383a
Sonate A-Dur KV 300i
Rondo a-Moll KV 511
Robert Schumann
Bunte Blätter op. 99
Foto: Mary Slipkova (c)
Grigori Lipmanowitsch Sokolow, 70, der bedeutendste Pianist der Gegenwart, hat in der Laeiszhalle Hamburg einmal wieder gezeigt, wo der Hammer hängt. Der Leningrader schenkte dem Publikum zwei Stunden seiner atemberaubenden Virtuosität. Am berührendsten ist der Mann mit dem fulminanten Anschlag, wenn er ganz ganz leise spielt, zärtlich und leise.
Sokolow empfing – nach zwei ! Stunden – die Applaussalven nüchtern, ließ sich unzählige Male rufen und beschenkte sein dankbares Publikum mit vier Zugaben.
Es ist faszinierend, mit welch einer Leichtigkeit der Pianist auf dem Steinway-Flügel anfangs die überaus flinke Musik, in der es an allen Ecken trillert und prallert, ganz jung und frisch erklingen lässt.
Die Musik ist nahezu nackt. Die rechte Hand phantasiert großteils solistisch, die linke Hand wirft nur hier und da ein paar Töne dazu. Doch das macht die Interpretation keineswegs einfacher, wie man vielleicht annehmen könnte: Hinter nichts kann sich der Pianist verstecken. Alles ist durchhörbar. Keine vollgriffigen Akkorde, bei denen der ein oder andere Klang auch mal nicht zu hundert Prozent sitzen muss, weil sie eh Effekt machen. Natürlich ist Sokolow dieser Aufgabe bestens gewachsen, es widerfährt ihm auch nicht der allerkleinste Patzer.
Das erste Stück ist absolviert. Applaus? Fehlanzeige. Sokolow holt nur einmal kurz Luft und beginnt sofort mit dem nächsten Stück. Er wird diese Strategie den Abend über beibehalten.
Das Konzertpublikum, das gewöhnt ist, sich zwischen den Werken, manchmal gar zwischen den einzelnen Werksätzen, räuspern zu können, sich einmal kurz zu strecken, blieb das ganze Konzert über – was ungewöhnlich für die Laeiszhalle und vor allem die Elbphilharmonie ist – mucksmäuschenstill. Der Gigant aus Hamburgs Partnerstadt St. Petersburg war einfach zu gut, um unnötige Geräusche von sich zu geben. Jeder im Saal spürte die Magie, die Einzigartigkeit, die vom Klavierspiel des Russen ausging. Wunderbar, dass der Veranstalter Dr. Goette / ProArte dieses Genie auch in Corona-Zeiten in die Freie und Hansestadt lotsen konnte.
Dieser Mann braucht nur einen Flügel. Und die große Bühne. Das reicht bei Grigori Sokolow für eine Karriere, die ihresgleichen sucht. Keine wirkungsvollen Künstlerfotos, kein sinnsuchendes Interview, keine aufwändigen Albumproduktionen – nein, Sokolow tritt eigentlich nur auf der Bühne in Erscheinung, am Flügel sitzend, mit den Händen etwas zaubernd, das nur schwer in Worte zu fassen ist und das seit vielen Jahrzehnten das Konzertpublikum begeistert. Seine Programme, die er immer erst kurz vor dem Konzert bekannt gibt, sind so gut und ausgewogen von ihm zusammengestellt, dass sie ganze Welten neu eröffnen können. Schubert, Mozart, Chopin, Rachmaninow, Haydn – sie alle werden durch Sokolows Hände in einen perfekt aufeinander abgestimmten Konzertabend verwandelt.
Die Musikkritikerin Julia Spinola (* 1962) schrieb 2010 nach einem Konzert in der Heidelberger Stadthalle: „Grigorij Sokolov ist einzigartig. Ein Pianist, dessen Genie die Möglichkeiten der Kategorisierung, des stilistischen Vergleichs und der metaphorischen Umschreibung auf so radikale Weise zu sprengen scheint, dass man sich beim Versuch einer Annäherung an seine Größe zunächst einmal schmerzhaft zurückgeworfen sieht auf die nicht einzulösende Notwendigkeit, für dieses pianistische Phänomen eine eigene Sprache erst erfinden zu müssen. Eine Kluft tut sich auf zwischen dem Kosmos des Gehörten und der Welt des Begriffs, kaum dass der letzte Ton im Konzertsaal verklungen ist.“
Die Musikkritikerin Dorothea Walchshäusl (* 1985) rühmte 2015 Sokolows „makellose, brillant virtuose Technik“, die „den Klang voll und satt […], aber nie massiv“ wirken lässt und dadurch eine „Freilegung höchster Musikalität“ ermöglicht.
Спасибо, уважаемый мастер Соколов, за этот чудесный вечер.
Auch die freundliche Saalfrau im Parkett rechts war nach dem Konzert sprachlos vor Glück.
Andreas Schmidt, 7. Oktober 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at