Foto: Grigory Sokolov © Klaus Rudolph
Als Brahms-Interpret ist er unangefochten einer der besten unserer Zeit. Was Grigory Sokolov nur bewegt, seit einiger Zeit Musik des 16. und 17. Jahrhunderts für Cembalo auf dem modernen Konzertflügel anzusetzen, lässt sich schwer ergründen. Nachdem er auf seinem letzten Recital Stücke von Henry Purcell präsentierte, ist der Russe nun bei William Byrd angekommen. Restlos überzeugend wirken diese Darbietungen nicht, die zweite Konzerthälfte aber bescherte eine Sternstunde.
Klavierabend
William Byrd
»John come kiss me now«
»First Pavan and Galliard«
»Fantasia«
»Alman«
»The Earl of Salisbury Pavan and two Galliards«
»Callino casturame«
Johannes Brahms
Vier Balladen op. 10
Zwei Rhapsodien op. 79
Grigory Sokolov, Klavier
Philharmonie Berlin, 2. Mai
von Kirsten Liese
Es gibt Künstler, bei denen es nicht darauf ankommt, was sie spielen, weil sie aus allem etwas ganz Großes zaubern. So hieß es einmal von Gert Westphal, „dem König der Vorleser“, ihm würde man wohl selbst gebannt zuhören, wenn er das Telefonbuch ablesen würde. Aber einen solchen Versuch hat es freilich nie gegeben, es war wohl mehr ein Kompliment.
Unter den Musikern ist Grigory Sokolov, zweifellos einer der besten und gefragtesten Pianisten der Zeit, ein Talent, dem sich das zutrauen ließe, zudem ein kompromissloser Ausnahmekünstler, der Studioaufnahmen ablehnt, keine Interviews gewährt und seit geraumer Zeit nur noch rein solistisch ohne Orchester auftritt.
Musik für Cembalo auf dem Klavier
Wiewohl ich im Vorhinein im Hinblick auf die angesetzte Renaissance-Musik in seinem jüngsten Recital etwas skeptisch war, regte sich Neugier, mich auf das Experiment einzulassen. Allerdings hat es mich wenig überzeugt, denn noch habe ich keine befriedigende Antwort darauf gefunden, warum Sokolov die gesamte erste Konzerthälfte Stücke aus dem 16. Jahrhundert ansetzt, die ursprünglich für ein Virginal entstanden. Zumal für sein Instrument soviel geniale Original-Literatur existiert wie für kein zweites!! Allein um alle Klavierwerke von Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Mendelssohn, Brahms, Chopin, Rachmaninow, Debussy, Liszt, Strawinsky, Bartok oder auch Schönberg einzustudieren, dürfte ein Leben kaum ausreichen.
Gewiss, auch Bach kannte noch kein Hammerklavier. Aber mit ihm verhält es sich doch noch anders, was aus meiner Sicht Einspielungen des legendären Glenn Gould belegen. Auch Scarlatti, von dem sich hin- und wieder Stücke auf Klavierabenden finden, mag noch angehen. Aber bei Byrd wird es bei aller pianistischen Könnerschaft doch kritisch. Und zwar deshalb, weil diese intime Musik auf einem modernen Konzertflügel, zudem in einem viel zu großen Raum, seinen ursprünglichen Reiz verliert und kaum mehr nach seinem Urheber klingt, insbesondere unter Einsatz von viel Pedal und mit kaum wahrnehmen Zäsuren angelegt wie eine große Sonate.
Intime Musik
Zwar entfalten die unzähligen auffälligen Triller und Mordente, von denen Byrds verzierungsreiche Stücke durchsetzt sind, noch im ersten Titel – Variationen auf das Volkslied „John come kiss me now“ – einen großen Reiz. Aber über eine knappe Stunde nutzt er sich ab, tönt diese Musik ohne den silbrigen klanglichen Zauber des Cembalos oder Virginals und dynamische Abstufungen, die in den Noten fehlen, fast eintönig.
Da zeigt sich, dass die unterschätzten historischen Tasteninstrumente mit ihrem Lautenzug, den sie zur klanglichen Abstufung zum Einsatz bringen können, letztlich über größere farbliche Differenzierungsmöglichkeiten verfügen als die modernen Klaviere.

Pianistische Meisterschaft
Unangefochten bleibt gleichwohl das pianistische Können Sokolovs, seine Eleganz in raschen virtuosen Tonketten, vor allem die bewundernswerte Leichtigkeit im Anschlag und Ebenmäßigkeit bei sämtlichen Trillern. Sie wandern von Takt zu Takt wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte.
Was ich aber eigentlich gehört habe, kann ich nur mit Ratlosigkeit beantworten. William Byrd, mir aus der Alten Musik sehr vertraut, war das nicht. Ein Stück von Sokolov aber auch nicht, die Noten sind ja doch nicht in seinem Kopf entstanden.
Grandiose Brahms-Interpretationen
Ganz anders dann der Brahms im zweiten Teil. Der ist bei Sokolov bestens aufgehoben.
Binnen Kürze vermittelt sich in der ersten der vier Balladen op.10 die gebotene Dramatik analog zu jenem tragischen Gedicht von Johann Gottfried Herder um einen Sohn, der auf Nachfragen seiner Mutter das Geständnis ablegt, seinen Vater getötet zu haben.
Mit großer Wucht stellt Sokolov den Schauer der Familientragödie aus, insbesondere die mächtigen, imposanten Blockakkorde des fast majestätischen finalen Trauermarschs.
Aber dann werden aus den Pranken, die so schlafwandlerisch sicher und ohne einen Anflug von Kraftanstrengung die gewaltigen Tongebilde meistern, Samtpfoten, wenn es an die zweite Ballade geht, das Andante in D-Dur, dargeboten im denkbar zärtlichsten dolcissimo. Es ist eigentlich mehr ein Singen als ein Spielen, ein drucklos zärtliches Streicheln der Tasten. Und dieser berührende, liedhafte Gesang geht mitten ins Herz.

Bei alledem nimmt Sokolov, wie er, die Ruhe selbst, den Oberkörper leicht nach hinten geneigt, am Flügel sitzt, eine ähnliche Haltung ein wie der Komponist, denkt man an historische Lithografien von Brahms am Instrument. Entsprechend vermittelt sich die große Ruhe, Schönheit und Poesie in der vierten, letzten H-Dur Ballade.
Leidenschaftlicher Brahms
Wie im ersten Teil schließt Sokolov alle Stücke fast nahtlos aneinander an, so gönnt er sich auch keine Beifall-Pause zwischen den Balladen und den zwei Rhapsodien op.79, von denen mir besonders die zweite „Molto passionato“ mit ihrem ersten aufwühlenden Thema noch immer nachhängt. Süffig, satt, leidenschaftlich, sehnsuchtsvoll und verträumt ist dieser Brahms und besitzt damit alles, was den Komponisten ausmacht.
Gewohnt großen Jubel des Berliner Publikums hatte sich der 75-Jährige damit verdient.
Sechs Zugaben hatte er auch noch im Gepäck, sagte die einzelnen Titel nur leider nicht an. Zwei trillerreiche Stücke aus der Alten Musik waren wohl darunter. Nochmal William Byrd? Irgendwie tönten sie aber überzeugender, vielleicht eher Scarlatti? Am Ende stand jedenfalls das kurze berühmte schmerzlich-schöne c-moll Prélude op.28 von Chopin. Ein bewegender, nachdenklicher Ausklang eines ungewöhnlichen Abends.
Kirsten Liese, 3. mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Klavierabend Grigory Sokolov Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 22. Mai 2024