Wer hätte das gewagt? Grigory Sokolov begeistert in Wien mit Klavierübungen

Klavierabend Grigory Sokolov  Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 22. Mai 2024

Grigory Sokolov © Oscar Tursunov

Klavierabend Grigory Sokolov

Wiener Konzerthaus , Großer Saal, 22. Mai 2024

Grigory Sokolov, Klavier


Johann Sebastian Bach

Duetto Nr. 1 e-moll BWV 802 (Clavier-Übung III) (1739)
Duetto Nr. 2 F-Dur BWV 803 (Clavier-Übung III) (1739)
Duetto Nr. 3 G-Dur BWV 804 (Clavier-Übung III) (1739)
Duetto Nr. 4 a-moll BWV 805 (Clavier-Übung III) (1739)
Partita Nr. 2 c-moll BWV 826 (1726–1731)

Frédéric Chopin
Vier Mazurken op. 30 (1836–1837)

Robert Schumann
Waldszenen op. 82 (1848–1849)

Zugabe:

Alexander Skrjabin
Frédéric Chopin
Johann Sebastian Bach

von Kathrin Schumann

Grigory Sokolov ist ein gleicherweise häufig wie gern gesehener und vom Publikum höchst geschätzter Gast im Wiener Konzerthaus. Sofern es ihm eine globale Pandemie nicht verunmöglicht, beehrt er die österreichische Bundeshauptstadt jährlich mit einem Besuch. Äußerlich betrachtet gleicht ein jeder dieser Besuche dem anderen: Bevor der Meister die Bühne betritt, wird die Beleuchtung im prall gefüllten Großen Saal gedimmt, eine fast andächtig-sakrale Stimmung entsteht. Dann bestreitet Sokolov unter tosendem Applaus behäbig seinen Weg über die Bühne hin zum Instrument.
Die Applaussalven nimmt der Meister mit einer angedeuteten Verbeugung entgegen, die eigentlich eher einem kurzen Nicken gleicht, um noch während er sich ans Klavier setzt, ohne auf einen Moment der Stille zu warten, das erste Stück anstimmt.

Grigory Sokolov © Klaus Rudolph

Am vergangenen Mittwoch war dies – und ja, Sie lesen richtig – eine Clavier-Übung von Johann Sebastian Bach, genauer gesagt das erste der Vier Duette BWV 802-805 aus der Clavier Übung III. Sokolovs Darbietung aller vier zweistimmigen, circa 4-minütigen Stücke ließ den Saal staunen, wie ‚nahrhaft‘ solch Miniaturen sein können, setzt man bloß die architektonischen Eigenheiten der kleinen kontrapunktischen Meisterwerke gekonnt in Szene, was dem Russen ohne Abstriche gelang.

Grigory Sokolov © Marco Borrelli

Die Partita Nr. 2 in c-moll, welche sich an dieses ‚Warm up‘ anschloss, bildete – wenn Sie mich fragen – den Höhepunkt des Konzertabends. Die sechs Sätze bestachen alle für sich durch kitschlose Emotionalität und allürenfreie Erzählkraft. Sokolovs Interpretation dieses im Wiener Konzerthaus u.a. von Argerich, Badura-Skoda und Schiff bereits 52-mal aufgeführten Werks wirkte mit ihrer feinsten musikalischen Gestik und überaus nuancierten Phrasierung in gleicher Weise logisch, ja selbst-verständlich wie originell und erfrischend, wofür das Publikum den Maestro schon vor der Pause hin mehrfach mit tosendem Applaus auf die Bühne bat.

In der zweiten Hälfte nahm sich das Ehrenmitglied der Wiener Konzerthausgesellschaft einer weiteren Miniaturform an, den insgesamt sieben Mazurken von Chopin der Opera 30 und 50. Kaum einem anderen Pianisten wäre wohl gelungen, die Aufmerksamkeit seines Publikums während dieser 20-minütigen Zeitspanne in dem Maße aufrecht zu halten, wie es Sokolov vollbrachte. Für die tonfarbliche Ausgestaltung der sich in ihren charakteristisch rhythmischen Mustern ähnelnden Stücke nutzte er die ganze Bandbreite, die ihm der Steinway zu Diensten zu Verfügung stellte und demonstrierte auf diese Weise, dass es nicht immer das Scherzo oder die Sonaten sein müssen, sondern, dass auch den vermeintlich einfacheren Stücken Chopins ein Platz auf den großen Konzertbühnen der Welt zusteht.

Grigory Sokolov © Marco Borrelli

Mit Robert Schumanns Waldszenen op. 82 bescherte er der Zuhörerschaft einen kurzweiligen, lieblich-romantischen Programmabschluss. Insbesondere mit dem wohl bekanntesten Stück dieser Sammlung, dem „Vogel als Prophet“, konnte Sokolov seine Fähigkeiten als Meister der Klanglichkeit neuerlich unter Beweis stellen, wodurch das oft gehörte Stück ganz frisch und unverbraucht klang.

Nach geschlagenen sechs Zugaben entließ das Publikum Sokolov mit „stehenden Ovationen“ in seinen wohlverdienten Feierabend. Herr Sokolov, bitte beehren Sie uns bald wieder!

Kathrin Schumann, 24. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Grigory Sokolov, Klavier Kölner Philharmonie, 29. Mai 2023

Grigory Sokolov, Klavier, Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 13. März 2022

Grigory Sokolov, Klavierabend, Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 13. März 2022

Grigorij Sokolov, Wiener Konzerthaus

Ein Gedanke zu „Klavierabend Grigory Sokolov
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 22. Mai 2024“

  1. Dunkler Saal, absolute Konzentration des vollen Saales. Wie jedes Jahr das Sokolov Ritual, Ende nach der sechsten Zugabe, was für ein wunderbarer Abend und zum letzten Absatz, ja er beehrt uns am 8. Mai 2025 wieder, Programm wird bekanntgegeben.
    „Er könnte auch das Telefonbuch spielen“!

    Friedrich Krammer

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