Eintauchen in fast schon avantgardistische Welten: Grigory Sokolov glänzt im Wiener Konzerthaus

Grigory Sokolov, Klavierabend,  Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 13. März 2022

Foto: Grigory Sokolov © Deutsche Grammophon

Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 13. März 2022
Grigory Sokolov, Klavierabend

Es gibt Werke, an denen kann man eigentlich nur scheitern – vor allem Live im Konzert. Die Kreisleriana ist eines davon. Obwohl technisch vielleicht noch für einige zu stemmen, an der emotionalen Tiefe scheitern fast alle. Eine der wenigen Ausnahmen: Grigory Sokolov. Wie der aus Russland stammende Klangmagier es Sonntagabend vollbracht hat, im Großen Saal des Wiener Konzerthauses, Schumanns nach außen gekehrtes Seelenleben zu gestalten, belehrt eines Besseren.

Dabei überrascht er nicht nur musikalisch. Wie im Vorfeld verkündet, hat sich Grigory Sokolov bereit erklärt, ein Statement zu setzen. Eines ohne Worte. Denn große Reden hat er noch nie geschwungen, der etwas scheue Anti-Star, der 1950 in St. Petersburg, dem ehemaligen Leningrad, das Licht der Welt erblickte. Seine komplette Gage spendet er an „Nachbar in Not“. Eine österreichische Hilfsaktion, die seit Jahrzehnten darum bemüht ist, das Leid vieler Menschen in Krisengebieten zumindest etwas zu lindern. Als russischer Künstler eine deutliche Abkehr zur Aggressionspolitik des Vladimir Putin. Alleine dafür hätte er sich schon den Kniefall verdient. Dass er dabei noch musiziert, als wäre er von einem anderen Stern, ist nur die Draufgabe.

Nicht alles ist heilig

Dabei sei aber nicht unerwähnt, dass nicht alles fließt, wie erhofft. Auch wenn man den mittlerweile 71-jährigen Klangmagier fast ausnahmslos in den Himmel lobt – sowohl Kritik als auch Publikum, alle sind sich einig: Sokolov ist einer größten, wenn nicht der größte Pianist, der zurzeit auf Erden wandelt. Selbst er ist nicht gefeit vor Manierismen und Fehlgriffen, die man ihm aber nur allzu gerne verzeiht.

Klar zum Vorschein tritt das, wenn Sokolov sich mit Beethoven beschäftigt. Mögen dessen Eroica Variationen zwar generell schwer verdaulich sein, schmecken sollten sie noch immer nach Beethoven. Dieser Kritik muss er sich stellen. Die teilen auch andere Besucher, wie sich deutlich herauskristallisiert, wenn man neugierig dem ein oder anderen Pausengespräch lauscht. „Der Beethoven hat mir nicht gefallen, der Brahms schon viel mehr“, sind sich drei gut betuchte Damen und ein Herr im edlen Zwirn einig. Nicht die einzigen Zuschauer, die diese Meinung teilen.

Dem ist fast ausnahmslos zuzustimmen. Wäre da nicht die alles überwältigende Harmonie, die Beethoven gleich zu Beginn der großen Largo-Variation aus den Fingern gezaubert hat. Wie Sokolov diese fast schon heilige Musik in ein zutiefst erschütterndes Gebet verwandelt, reißt das Ruder bereits hier zu seinen Gunsten herum. Was zuvor noch etwas hölzern klang, schwebt nun auf einer geschmeidigen Wolke und mündet in einer abschließenden Fuge.

Kreisleriana

Wo Grigory Sokolov aber endgültig den Sack zumacht, ist Robert Schumanns Kreisleriana. Nachdem er bereits bei Brahms Drei Intermezzi bewiesen hat, dass er hier eher in seinen Gewässern fischt, erweist sich der begnadete Virtuose nun über jeden Zweifel erhaben. Robert Schumanns Kreisleriana zählt zu den schönsten Liebesgeschichten, die jemals ein Mensch zu Blatt gebracht hat. Egal ob Dichter, Regisseure oder große Komponisten, hier hat Schumann ein musikalisches Selbstporträt erschaffen, dem einfach niemand das Wasser reichen kann.

Dort liegt aber auch die große Gefahr. Kaum ein Pianist erweist sich als derart versiert, diesen emotionalen Kampf, den Schumann hier offensichtlich fechtet, glaubwürdig und tiefgreifend zu bewältigen. Zumindest nicht Live, auf den Punkt, ohne jegliche Möglichkeit des Schnitts und der Neuaufnahme. Anders aber Grigory Sokolov. Was man ihm bei Beethoven noch ankreiden mochte, entlarvt sich bei Schumanns Schlüsselwerk der romantischen Klavierliteratur als unfassbare Bereicherung.

Ein klarer Sieg für Eusebius, den „Milden“

Den Zwist, den Florestan und Eusebius in der Kreisleriana augenscheinlich führen. Zwei fiktive Charaktere, die Schumann selbst nicht nur bei seinen Kritiken, die er schrieb, ins Rennen warf, sondern auch in einigen Werken federführend ins Spiel einbezog. Diesen Zwist artikuliert Grigory Sokolov in seiner ganz eigenen Tonsprache. Florestan, der „Wilde“, der tonangebend in den rasanten der insgesamt acht Charakterstücken zum Zug kommt, wandelt teilweise auf total fremden Territorien. Von der Beethoven‘ schen Weihe bis hin zum französischen Impressionismus reicht die Klangmalerei, die Sokolov durch das farbenreiche Klangspektrum seines schwarzen Steinway-Flügels in den Saal strömen lässt. Das klingt einerseits verwirrend, anderseits aber auch hochinteressant und erfrischend – fast schon bahnbrechend.

Als Sieger vom Feld zieht aber ganz klar Eusebius, der „Milde“. Sonst hätte Sokolov beim dritten Stück, wo andere galoppierend zum Angriff blasen, nicht auf so friedliche Töne gesetzt. Ebenso bei all den anderen der rasant notierten Stücke. Der Höhepunkt allerdings: Ohne Wenn und Aber, die Stücke, die Schumann mit „Sehr innig“, „Sehr langsam“ oder „Sehr innig und nicht zu rasch“ notiert. Wer hier derart herzergreifend, Sehnsucht in den Saal zu hauchen vermag, dass es fast schon schmerzt, der hat den Sieg mehr als nur verdient.

Dass dabei so gut wie kein Störgeräusch den Siegeszug durchbricht, ist der hohen Kunst von Sokolov zu verdanken. Mit welch außergewöhnlichem Gefühl für Spannung und Auflösung, er diese energiegeladenen Schmuckstücke zelebriert, ist zurzeit fast unerreicht. Dankbar, wer das erleben darf.

Fragwürdig bleibt nur, wieso Sokolov den deutlichen Kontrast, den andere zwischen diesen beiden Charakteren ziehen, eher nivelliert. Immerhin steht der Kampf zwischen Florestan und Eusebius im Mittelpunkt dieser über alles thronenden Liebesgeschichte. Vermutlich, weil er einfach Grigory Sokolov ist. Der für viele zurecht begnadetste Interpret und Geschichtenerzähler am Klavier.

14. März 2022, klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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