Foto: Grigory Sokolov © Deutsche Grammophon
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 13. März 2022
Grigory Sokolov, Klavier
Programm
Ludwig van Beethoven
15 Variationen mit Fuge über ein Originalthema Es-Dur op. 35 »Eroica-Variationen« (1802)
Johannes Brahms
Drei Intermezzi op. 117 (1892)
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Robert Schumann
Kreisleriana. Acht Fantasiestücke für Klavier op. 16 (1838)
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Zugabe:
Frédéric Chopin
Mazurka h-moll op. 30/2 (1836–1837)
Sergej Rachmaninoff
Prélude D-Dur op. 23/4 (1903)
Prélude es-moll op. 23/9 (1903)
Prélude Ges-Dur op. 23/10 (1903)
Alexander Skrjabin
Prélude e-moll op. 11/4 (1888–1896)
Johann Sebastian Bach
Ich ruf‘ zu dir, Herr Jesu Christ BWV 639 (Orgel-Büchlein) (Bearbeitung für Klavier: Ferruccio Busoni) (1713–1717 ca./1907–1909)
von Kathrin Schuhmann
Wenn sich trotz der Kälte des Wiener Windes in der Hoffnung, vielleicht doch noch eine Restplatzkarte ergattern zu können, bereits vor den Türen des Wiener Konzerthauses Menschentrauben bilden, darf eines als gewiss gelten: Etwas Großartiges wird für den Abend erwartet, ein Kunsterlebnis, das in Erinnerung bleibt, ein Musikgenuss, der seinesgleichen sucht. Das Konzerthaus hat sich alle Mühe gegeben, möglichst vielen Zuhörern und Zuhörerinnen ihren Wunsch, diesem Ereignis beizuwohnen, nachzukommen. So nahm das Publikum nicht nur – wie gewohnt – im Parterre und auf den Balkonen Platz, sondern zudem auf der Orgelempore und gar auf der Bühne selbst, die mit einer Stuhlreihe versehen war.
Grigory Sokolov ist ein gleichweis häufig wie gern gesehener und vom Publikum höchst geschätzter Gast im Wiener Konzerthaus. Sofern es ihm eine globale Pandemie nicht verunmöglicht, beehrt er die österreichische Bundeshauptstadt jährlich mit einem Besuch. Äußerlich betrachtet gleicht ein jeder dieser Besuche dem anderen: Bevor der Meister die Bühne betritt, wird die Beleuchtung im prall gefüllten Großen Saal gedimmt, eine fast andächtig-sakrale Stimmung wird generiert. Dann bestreitet Sokolov unter tosendem Applaus behäbig seinen Weg über die Bühne hin zum Instrument. Die Applaussalven nimmt der Meister mit einer angedeuteten Verbeugung entgegen, die eigentlich eher einem kurzen Nicken gleicht, um noch während er sich ans Klavier setzt, ohne auf einen Moment der Stille zu warten, das erste Stück anstimmt.
Für den vergangenen Sonntag hat der russische Ausnahmekünstler ein durch und durch romantisches Programm ausgewählt. Mit den sogenannten „Eroica-Variationen“, den 15 Variationen mit Fuge über ein Originalthema Es-Dur op. 35 von Ludwig van Beethoven – dem ersten romantischen Komponisten der Geschichte – setzte er ein Werk an den Konzertbeginn, dass dem Pianisten, aber auch den Zuhörenden einiges abverlangt. Es ist beispiellos, wie es Sokolov gelingt, gleich von Beginn an, mit nichts mehr als dem ‚nackten‘, in Doppeloktaven geführten, kompositorisch überaus schlicht gestalteten, ja kadenzierend anmutenden Thema eine Stimmung im Saal zu kreieren, deren Intimität das Publikum vom ersten Moment an vereinnahmt. Der Steinway erweist Sokolov bei seiner Interpretation die besten Dienste. Der direkte, stolze, teils fast schon unverschämt selbstbewusst anmutende Charakter der ein oder anderen Variation wurde vom Flügel bis in die letzten Reihen des Saales getragen und animierte das Publikum zu donnerndem Applaus, das auch während der technisch überaus kunstvoll komponierten und daher nicht immer ganz leicht zugänglichen Variationen in Stille verharrte.
Wie anders war dann das, was auf den monumentalen Beethoven folgte: Die Drei Intermezzi op. 117 von Johannes Brahms zeigen den Komponisten von seiner zerbrechlich-anmutenden, ganz persönlichen Seite. Es ist nicht unpassend, dass diese drei Klavierstücke gern auch als ‚Abschiedsmusik‘ apostrophiert werden. Die drei Charakterstücke, die den versierten Klavierspieler in technischer Hinsicht nicht übermäßig herausfordern werden, ihm dafür aber seine ganze gestalterische Virtuosität abverlangen, reflektieren in der Unterschiedlichkeit zahlreicher kompositorischer Eigenschaften wie Agogik, Tempo, Dynamik, Harmonik, den emotionalen Facettenreichtum, dem sich der mit Abschied konfrontierte Mensch ausgesetzt sieht. Der nicht enden wollende, stürmische Applaus wirkte nach jenen ‚privaten‘ Minuten beinahe schon störend. Gewaltsam riss er den in den Klangwelten Brahms‘ versunkenen Hörer noch ehe auch nur ein Moment der Stille den Saal hat füllen dürfen, zurück in das Hier und Jetzt.
Mit Robert Schumanns Acht Fantasiestücken für Klavier op. 16, die der Komponist mit dem Beinamen „Kreisleriana“ versehen hat, präsentierte Sokolov in der zweiten Konzerthälfte ein halbstündiges Werk, das mit seiner poetischen Klangsprache und subjektiven Materialbehandlung sinnbildlich für die Epoche der musikalischen Romantik steht. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welch einer äußerlichen Nüchternheit Sokolov dieses eklatant eindringlich sprechende, sich dem Hörer mit seiner Intensität fast schon aufdrängende Klavierwerk vorträgt. Bei Sokolov gibt es keine Mätzchen, keine Grimassen, keine performativen Eskapaden. Bei Sokolov gibt es nichts als Kunst – und zwar in Reinform.
Nach geschlagenen sechs Zugaben entließ das Publikum Sokolov mit stehenden Ovationen in seinen wohlverdienten Feierabend. Herr Sokolov, bitte kommen Sie bald wieder!
Kathrin Schuhmann, 15. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at