Den Schalk im Nacken: Kirill Petrenko dirigiert Mahlers Siebte

Gustav Mahler (1860-1911) – Sinfonie Nr. 7 in e-Moll  Alte Oper, Frankfurt, 7. November 2022

Foto: Berliner-Philharmoniker © Stephan Rabold

Es war insgesamt eine Darbietung, die Sternstundencharakter hatte. Mein Begleiter erzählte mir hinterher, für ihn sei es die beste Aufführung der Siebten gewesen, die er je erlebt habe, es sei für ihn sogar „ein Mahler für die Insel“.


Ein außergewöhnlicher Abend in Frankfurt

Gustav Mahler (1860-1911) – Sinfonie Nr. 7 in e-Moll

Frankfurt, Alte Oper, 7. November 2022

von Brian Cooper, Bonn

Tradition, das besagt wahrscheinlich nicht nur der rheinische Volksmund, ist alles, was zweimal oder öfter geschieht. Und so ist es guter Brauch geworden, dass das Traditionsorchester Berliner Philharmoniker am Vorabend einer langen Konzertreise in der Frankfurter Alten Oper gastiert. Ein Pflichttermin für alle Fans großer Sinfonik.

Diesmal geht es in die USA, unter anderem mit der äußerst selten gespielten Fis-Dur-Sinfonie von Erich Wolfgang Korngold, die vergangene Woche zum ersten Mal überhaupt von den Berlinern öffentlich aufgeführt wurde. (Ein Blick in die Digital Concert Hall lohnt sich unbedingt, nicht nur für Menschen, die selten gespieltes Repertoire schätzen.)

Traditionsbewusste Nordamerikaner, die von den Berlinern Brahms oder Schumann erwarten, müssen also jetzt ganz stark sein. Denn auch das zweite große sinfonische Werk im Tourneegepäck ist selbst unter Menschen, die eigentlich gern Gustav Mahler hören, nicht das liebste Kind, nämlich dessen abendfüllende Siebte Sinfonie. Das Orchester hatte das Werk bereits zur Eröffnung der laufenden Saison gespielt.

„Es ist mein bestes Werk und vorwiegend heiteren Charakters“, soll Mahler selbst gesagt haben. (Hat er Ähnliches nicht auch später über die Achte gesagt?) Über den heiteren Charakter ließe sich vortrefflich debattieren. Denn es spukt ganz schön in diesem Werk. Das Scherzo hat die wunderbare Vortragsbezeichnung „schattenhaft“ und wird von zwei „Nachtmusiken“ umrahmt, die selbstredend nicht weiter von Mozarts „kleiner Nachtmusik“ entfernt sein könnten.

Berliner Philharmoniker © Stephan Rabold

Der erste Satz, in dem – freilich auf allerhöchstem Niveau – noch nicht alles ganz so perfekt serviert wurde, wie man es von den Berlinern gewohnt ist (ein paar wenige Winzigkeiten in Intonation und Präzision würde man wohl im Tonstudio erneut aufnehmen), liegt irgendwo zwischen lebensbejahendem Schönklang und grotesker Schrillheit. Wunderbar gelang das Tenorhorn-Solo, und das spektakulär gelungene Ende wurde von der Dame vor mir mit einem bewundernden Pfffh! quittiert.

Ein grandios gespieltes Hörner-Zwiegespräch eröffnet den marschartigen zweiten Satz, also die erste Nachtmusik, in der die Stellen, wo die Streicher col legno spielen, eindrücklich die bevorstehende Begegnung mit dem Knochenmann evozieren, die uns allen irgendwann blüht. Die von Mahler so geliebten Herdenglocken kommen auch in der Siebten zum Einsatz und schaffen zwischendurch eine pastorale Almidylle, zu der in Frankfurt auch die vorzüglich aufgelegten Holzbläser beitrugen.

Der dritte Satz, das bereits erwähnte Scherzo, ist im Grunde ein komplett bizarrer d-Moll-Walzer mit Betonung auf der Zwei, in dem nicht nur die schrillen Schreie in den Holzbläsern und hohen Streichern das Schattenhafte darstellen. Petrenko führte gekonnt durch diesen hypernervösen Irrsinn, der auch durch die immer wieder auftretenden hektischen Tonleitern in den Geigen, aggressive pizzicati und die fabelhaft von Vincent Vogel bediente Pauke untermauert wurde. Neben dem Scherzo der Neunten fällt mir kein weiterer Mahler-Satz ein, der so „schräg“ ist.

Der vierte Satz, in F-Dur, beginnt idyllisch. Herausragend waren hier die Soli des Konzertmeisters Daishin Kashimoto und – wie so oft – das Solohorn von Stefan Dohr. Bemerkenswert ist der Einsatz von Gitarre und Mandoline, was im sinfonischen Repertoire ziemlich einzigartig ist. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang ganz am Rande ein kleines Detail: Der Bratschist Matthew Hunter übernahm im vierten Satz den Gitarrenpart. Chapeau! Der Satz verebbte morendo: Ein Traum.

Vor allem der Finalsatz ließ in der Vergangenheit manch einen ratlos zurück. Oft gescholten, ist es doch ein im besten Sinne jubelnd überdrehtes Stück, wie ich finde. Petrenko dirigierte federnd, tänzelnd, bisweilen gar „aus der Schulter heraus“. Sympathisch lächelnd, auch fordernd, bekommt er, was er will, und strahlt dabei. Er hat den Schalk im Nacken und ist einer der wenigen Dirigenten, dessen Mimik mir pure Lebensfreude vermittelt. Als ich vor vielen Jahren nach einem Musikfest-Besuch in meiner damaligen Stammkneipe am Schiffbauerdamm versackt bin, saß er zufällig am Tisch hinter mir, in Begleitung mehrerer Mitglieder des Orchesters der Komischen Oper. Ich darf berichten: Die Leute hatten sehr viel Spaß!

Es war insgesamt eine Darbietung, die Sternstundencharakter hatte. Mein Begleiter erzählte mir hinterher, für ihn sei es die beste Aufführung der Siebten gewesen, die er je erlebt habe, es sei für ihn sogar „ein Mahler für die Insel“.

Natürlich wird es immer Menschen geben, die was zu meckern haben; gerade hierzulande ist das ja Volkssport. Mit Nachdruck sei aber nochmal betont: Kirill Petrenko wäre als Chefdirigent für jedes Orchester ein Glücksgriff. Die Berliner Philharmoniker, das ist kein Geheimnis, sind eine Diva, so großartig sie auch spielen. Hoffen wir, dass diese Ehe noch ganz lange andauert.

Dr. Brian Cooper, 8. November 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Kirill Petrenko dirigiert Korngold, Mozart und Norman Philharmonie Berlin, 3. November 2022

Berliner Philharmoniker, Berliner Philharmoniker Kirill Gerstein, Klavier, Kirill Petrenko, Dirigent Waldbühne Berlin, 25. Juni 2022

Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, Europakonzert, Philharmonie Berlin, 29. April 2022

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert