Mahler in Darmstadt hinreißend dirigiert von Daniel Cohen

Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 6 a-moll/Daniel Cohen, Dirigent  Staatstheater Darmstadt, 23. Juni 2025

Daniel Cohen © Kauko Kippas

So und nicht anders!

Am Ende stand ein Moment völliger Stille. Kein Applaus brach sofort aus – das Publikum war wie paralysiert, in Bann geschlagen von der Unerbittlichkeit dieser Sinfonie und der kompromisslosen Klarheit ihrer Darbietung.

Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 6 a-moll

Hessisches Staatsorchester Darmstadt
Daniel Cohen, musikalische Leitung

Staatstheater Darmstadt, 23. Juni 2025

von Dirk Schauß

Nach fünfundzwanzig Jahren erklang in Darmstadt wieder Gustav Mahlers Sechste – jene Sinfonie, die der Komponist selbst einst „tragisch“ nannte, ohne diesen Beinamen in die Partitur einzutragen. Im sehr gut besuchten Großen Haus des Staatstheaters stellte sich GMD Daniel Cohen mit dem Hessischen Staatsorchester Darmstadt dieser Partitur von schroffer Monumentalität und innerer Zerrissenheit – und führte sie mit einer Klarheit und Konsequenz auf, die fesselte, forderte und im letzten Satz erschütterte.

Cohen, seit 2018 Generalmusikdirektor in Darmstadt, entfaltete von Beginn an eine stringente, unerbittlich auf das Ende zustrebende Dramaturgie. Seine Interpretation war nicht aus dem Geist spätromantischer Schwärmerei gedacht, sondern aus dem Bewusstsein für architektonische Proportionen, dramatische Spannungsverläufe und präzise kontrollierte Klanggestaltung. Das Staatsorchester folgte ihm mit bewundernswerter Konzentration und einer Ausdruckskraft, die selbst in Momenten äußerster Lautstärke nie ins Ungefähre entglitt. Besonders in den Streichergruppen, die mal gestapelt wie Gesteinsschichten übereinanderlagen, mal flirrend vorüberzogen wie Schattenrisse, wurde hörbar, wie tief diese Musik im Orchester verankert ist.

Bereits der Kopfsatz – ein Allegro energico, ma non troppo – entfaltete sich mit erschütternder Wucht. Cohens Zugriff war direkt, unerbittlich, strukturiert, ohne die emotionale Dimension der Musik zu vernachlässigen. Die Marschrhythmen marschierten nicht, sie stampften – mal knirschend im Blech, mal wie aufgerautes Metall durch die tiefen Streicher. Die eröffnenden Hörner, getragen von einem Unisono, das wie ein drohender Ruf in eine düstere Landschaft hineinwuchs, setzten ein deutliches Zeichen: Diese Deutung kennt keine Ironie, keine Sentimentalität – sie ist ein Ernstfall. Gerade in der Durchführung entfaltete sich das thematische Material nicht als freier Strom, sondern wie ein Ringen mit sich selbst – motivisch verdichtet, rhythmisch zugespitzt.

Cohen baute über lange Strecken Spannung auf, ohne sie vorschnell zu entladen – eine Fähigkeit, die dem gesamten Abend ein hohes Maß an innerer Dramaturgie verlieh. Gleichzeitig gewährten die gemäßigten Tempi hinreichend Raum für große Emotionalität und einen tiefen Blick hinter Mahlers Partitur.

Im Scherzo – hier an zweiter Stelle platziert, wie es Mahler in der ersten Druckfassung anordnete – gewann das Spielerische einen sardonischen Zug. Die grotesken Akzente, das klappernde Schlagwerk, die bizarr verzerrten Tanzrhythmen: All das ließ Cohen nicht als kabarettistisches Zwischenspiel wirken, sondern als psychologisches Kontrastbild – eine düstere Karikatur des Kopfsatzes, verzerrt wie durch eine konvexe Spiegelung. Die Holzbläser zeigten hier eine enorme Agilität, besonders die Klarinetten mit ihren schneidenden Intervallen, die das Klangbild mit grellem Licht durchzogen.

Im Andante – dem Herzstück dieser Aufführung – öffnete sich der Klang in eine andere Sphäre. Die tiefgründige Kantabilität der Streicher, die sich in langen, atmenden Linien entfaltete, schien über dem Geschehen zu schweben. Cohen verlangsamte hier das Tempo weit, ließ den Raum atmen und gab jeder Phrase die Zeit, sich zu entfalten. Gerade in den leisen Momenten wurde deutlich, wie differenziert das Orchester artikulierte: Oboen, die fast wie gehaucht klangen, Celesta-Tupfer, die wie Lichtreflexe über dunklem Wasser glitzerten, und ein hinreißendes Hornsolo, das nicht als heroische Geste daherkam, sondern wie ein verletzlicher Ruf aus der Ferne. Es war ein Andante von großer innerer Spannung, durchpulst von der Ahnung eines Verlusts, der unausweichlich näher rückte.

Das Orchester wurde zur kollektiven Gesangsstimme und versetzte das gebannte Publikum in ein weites Universum der Transzendenz. Faszinierende Raumeffekte – wie die Kuhglocken und später die Glockenplatten – erklangen von verschiedenen Seiten hinter den Zuhörern. Die Zeit stand still.

Der Finalsatz – dieses überdimensionierte Adagio-Allegro, das mehr als 30 Minuten in Anspruch nimmt – geriet zur eigentlichen Prüfung für Orchester und Dirigent. Cohen entschied sich für eine Interpretation, die das Ringen dieser Musik nicht glättete, sondern mit schonungsloser Dringlichkeit auslotete. Die zwei Hammerschläge – jene schicksalhaften Einschläge, die Mahler selbst als Vernichtungsschläge bezeichnete – trafen wie aus einer anderen Welt. Sie klangen nicht brutal, sondern endgültig. Der erste: entschlossen, der zweite: vernichtend – wie ein Auslöschen der Zeit selbst.

Es war, als würde sich der Boden unter den Füßen auflösen, als würde Musik, die sich eben noch artikulierte, plötzlich in sich zusammenfallen. Besonders in den klanglichen Rückspiegelungen vor diesen Schlägen – wenn Themen aus früheren Sätzen als Fragment wieder auftauchten – schärfte Cohen die Transparenz bis ins äußerste Detail. Einzelstimmen blieben hörbar, ohne sich vom Gesamtklang abzulösen. Der Klang war hier kein Teppich, sondern ein Gewebe – dicht, widerständig, voller innerer Reibung. Fortwährend türmte sich die Musik zu neuen Gipfeln auf. Das allgegenwärtige Paukenthema wurde brutal gesteigert – bis zum Ende hin. Danach: komplette Auflösung.

Was diese Aufführung besonders machte, war die vollkommene Integration aller Teile in ein Ganzes. Nichts blieb Episode, nichts bloß Effekt. Cohens Mahler klang nicht wie ein Puzzle aus musikalischen Einfällen, sondern wie ein einziger, langer Atemzug – ein Komponieren mit Klang, Zeit und Gefühl, das durch Schmerz ging, aber nicht in Verzweiflung endete, sondern in eine Stille führte, die nicht leer, sondern erfüllt war.

Welchen Anteil daran das Hessische Staatsorchester Darmstadt hatte, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Alle Gruppen zeigten sich in blendender Form – mit einem Klangbild, das zugleich wuchtig, differenziert und bis ins Feinste nuanciert war. Die Streicher überzeugten mit satter Klangkultur, breitem Atem und bemerkenswerter klanglicher Homogenität. Die Holzbläser waren die großen Charaktergeber des Abends – mit farbenreicher Expressivität, klug geformten Linien und unerschöpflicher gestalterischer Fantasie. Ungemein präsent auch die große Gruppe der Hörner, getragen von einem herausragenden Solo-Hornisten, der seine Kantilenen ebenso kultiviert wie klangvoll anlegte. Auch Trompeten, Posaunen und Tuba bestachen durch klangliche Sicherheit, rhythmische Klarheit und beeindruckende Ausdauer – gerade im überlangen Finale mobilisierten sie nochmals ungeahnte Reserven.

Stürmisch bejubelt wurde das große Schlagwerk-Ensemble, das mit Wucht, Präzision und einem faszinierenden Farbenreichtum agierte. Besonders visuell eindrucksvoll: die beiden monumentalen Holzhammerschläge, bei denen jedes Mal eine gewaltige Wolke aus Holzspänen aus der Kiste emporschoss – ein fast filmisches Detail, das sich in die kollektive Erinnerung einbrannte.

Auch die zahlreichen Soli im Orchester gelangen mustergültig – ob in Violine, Horn, Trompete, Englischhorn, Klarinette oder Fagott: Alle Stimmen trugen sich mit Selbstverständlichkeit aus dem Gesamtklang heraus, ohne je die Balance zu verlieren. Es war ein Kollektiv auf Augenhöhe – mit dem Dirigenten, mit der Musik und miteinander.

Am Ende stand ein Moment völliger Stille. Kein Applaus brach sofort aus – das Publikum war wie paralysiert, in Bann geschlagen von der Unerbittlichkeit dieser Sinfonie und der kompromisslosen Klarheit ihrer Darbietung. Umso beeindruckender war die durchgehende Konzentration im Saal: Kaum ein Huster unterbrach das Geschehen, und wenn doch, dann nur zwischen den Sätzen – und auch das äußerst verhalten. Kein Handy klingelte, kein Programmrascheln störte. Dieses Maß an Stille, Aufmerksamkeit und Respekt ist heute selten geworden – und unterstreicht, wie sehr dieses Konzert als existenzielles Musikerlebnis wahrgenommen wurde.

Dann brach tosender Beifall los – mit stehenden Ovationen für einen Dirigenten und ein mitgehendes Orchester, die Mahler nicht aus sentimentaler Nähe, sondern aus analytischer Empathie heraus zum Klingen brachten. Daniel Cohen zeigte ein meisterliches Dirigat, wie es nur ganz wenigen am Pult vergönnt ist. Eine perfekte Abstimmung aus Struktur, Durchdringung und Gefühl in traumwandlerisch sicheren Tempi und bestechender Dynamik. So – und nicht anders – muss Gustav Mahler klingen!

So war es kein nostalgisches Wiederhören nach 25 Jahren, sondern ein Ereignis von monumentaler Wucht, das Mahlers Prophezeiung einlöste: „Meine Sechste wird Rätsel aufgeben.“ Daniel Cohen hat dieses Rätsel nicht gelöst – aber er hat ihm mit Würde, Tiefe und musikalischer Wahrhaftigkeit gegenübergestanden. Ein unvergesslicher Abend.

Und ein Abend, der auch ein leises Innehalten für das Orchester selbst bedeutete: Nach eindrucksvollen 41 Jahren wurde Heidrun Finke, langjähriges Mitglied des Staatsorchesters und prägende Stimme an Oboe und Englischhorn, in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet.

Mit einer herzlichen Rede, spürbarer Dankbarkeit und liebevoll überreichten Geschenken nahm sie ihren Abschied – ein bewegender Moment nach einem Konzert, das selbst von Tiefe, Menschlichkeit und künstlerischer Größe geprägt war.

Dirk Schauß, 24. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Gustav Mahler, Symphonie Nr. 6 a-moll „Tragische”, Sir Simon Rattle Dirigent Musikverein Wien, 17. März 2024

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CD-Besprechung: Gustav Mahler/Complete Symphonies klassik-begeistert.de, 31. Mai 2025

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