Sollen wir den Tod fürchten oder ihn verlachen?

György Ligeti, “Le Grand Macabre” Wiener Staatsoper, 17. November 2023

Le Grand Macabre © Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Die größte Anstrengung des Lebens ist, sich nicht an den Tod zu gewöhnen (Elias  Canetti)

György Ligeti
“Le Grand Macabre”

Musikalische Leitung: Pablo Heras-Casado
Inszenierung und Bühne: Jan Lauwers
Kostüme: Lot Lemm
Choreographie: Paul Blackman & Jan Lauwers
Choreinstudierung: Jozef Chabron

Slowakischer Philharmonischer Chor
Orchester der Wiener Staatsoper
Bühnenorchester der Wiener Staatsoper

Wiener Staatsoper, 17. November 2023

von Dr. Rudi Frühwirth

Ich bin mit großen Erwartungen in die Staatsoper gegangen und bin tief beeindruckt, aber auch etwas verwirrt wieder herausgekommen.

Beeindruckt war ich von der musikalischen wie der szenischen Qualität der Produktion, verwirrt von der Fülle an Bildern, der kaum fassbaren Vieldeutigkeit des Textes und der proteushaften Wandlungsfähigkeit der Musik.

Beginnen wir mit der Inszenierung der Oper, die in einem märchenhaften “Breughelland” spielt.  Mit einem Ensemble von exzellenten Tänzerinnen und Tänzern beschwören Jan Lauwers und Paul Blackman die verwirrende Vielfalt, die Brutalität und auch die Obszönität der einzigartigen Wimmelbilder von Piet Breughel dem Älteren herauf. Die Choreographie bildet einen ganz entscheidenen Anteil am faszinierenden optischen Eindruck  der Produktion. Nicht wenig tragen auch die fantasievollen Kostüme  von Lot Lemm dazu bei.

Le Grand Macabre © Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Die Sängerinnen und Sänger sind nicht nur stimmlich und musikalisch, sondern auch physisch extrem gefordert. Ihnen allen gilt meine uneingeschränkte Bewunderung.  Georg Nigl als Nekrotzar erweist sich als vielseitiger Sänger-Schauspieler, der in dieser Rolle alles gibt, vom Flüstern bis zum exzessiven Schrei. Nicht minder beeindruckend ist Gerhard Siegel als Piet vom Fass, der beleibte und trinkfreudige Sancho Pansa des Nekrotzar, der ja in seinem Scheitern durchaus etwas von Don Quijote an sich hat.

Der Countertenor Andrew Watts als Fürst Go-Go von Breughelland gibt eine köstliche Parodie eines eitlen Herrschers, der in Wirklichkeit von seinen Ministern  (Daniel Janz und Markus Pelz) dominiert und kujoniert wird. Der Chef seiner Geheimen Politischen Polizei ist originellerweise gleichzeitig die Liebesgöttin Venus. Wer denkt da nicht gleich an das Orwell’sche “Liebesministerium”?

Le Grand Macabre © Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Sarah Aristidou meistert die extreme Lage und halsbrecherischen Koloraturen beider Rollen bravourös. Zu diesen Bewohnern Breughellands gesellen sich noch zwei gegensätzliche Paare: der Hofastronom Astradamors (Wolfgang Bankl), der mit Mescalina (Marina Prudenskaya) in einer sadomasochistischen Beziehung lebt, und das rührende Duo der zwei Liebenden Amanda und Amando, dargestellt von Maria Nazarova und Isabel Signoret. Diese beiden sind auch die Einzigen, die nicht ironisch oder parodistisch behandelt werden. Der Chor, der eine wichtige Rolle in der Oper spielt, wurde von Jozef Chabron fabelhaft einstudiert.

Die von Ligeti komponierte Musik ist von ungeheurer Komplexität und auch nach mehrmaligem Hören kaum zu erfassen. Das Orchester, souverän geleitet von Pablo Heras-Casado,  ist dominiert von Bläsern und einem ungewöhnlich umfangreichen Schlagwerk mit “Instrumenten”, die wohl niemals zuvor und danach in einer Opernpartitur aufgeschienen sind:  Hupen, Klingeln, Kuckuckspfeifen, Sirenen, ein Tablett mit Geschirr(!) und viele andere mehr. Manchmal parodiert Ligeti sich selbst, wenn zum Beispiel das zum Eingang der ersten beiden Bilder mit Hupen produzierte “höllische Gelächter” zu Beginn des dritten Bilds auf elektrische Klingeln übertragen wird.

Le Grand Macabre © Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Kenner behaupten, dass in der Komposition auch zahlreiche Zitate früherer Musik enthalten sind. Eine Verfremdung des “Galop infernal” aus “Orphée aux enfers” im zweiten Bild war sogar von mir zu erkennen; nicht zu überhören war auch im dritten Bild, dass die Basslinie des orgiastischen Totentanzes, einer Passacaglia,  rhythmisch identisch ist  mit dem  Pizzicatothema, das zu Beginn des vierten Satzes der “Eroica” erklingt, und auch melodisch von diesem abgeleitet ist. Diese Szene war für mich die eindrucksvollste des gesamten Abends.

Le Grand Macabre © Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Das Schlussduett der beiden Liebenden hat mich wiederum stark an die herzzerreißenden Kantilenen der Lulu in Bergs gleichnamiger Oper erinnert.

Neben soviel Scherz, Satire und Ironie kann auch die Frage nach tieferer Bedeutung nicht ausbleiben. Nekrotzar, der “Kaiser der Toten”, verspricht, die Welt auszulöschen, erliegt aber am Ende des dritten Bildes dem grenzenlosen Hedonismus der Einwohner von Breughelland, die auch ein Weltuntergang  nicht von Alkohol und sexuellen Genüssen abhalten kann.

Dazu singt der Chor die letzten Worte des Gekreuzigten: “Consummatum est” – “Es ist vollbracht”, was einerseits wie ein Hohn auf das totale Versagen des Nekrotzar  wirkt, andererseits auch blasphemisch mit “Es ist konsumiert” übersetzt werden kann – eine Anklage gegen die Konsumgesellschaft, die den Tod verdrängt und  dem nackten Materialismus verfallen ist? Ist Nekrotzar tatsächlich der Todbringer, oder ist er ein Scharlatan, dem gerade wegen seiner übertrieben Prophezeiungen kein Mensch mehr glauben mag?

Sollen wir ihn fürchten oder verlachen, wie mich eine kluge Freundin nach der Vorstellung fragte? Schlüssige Antworten auf solche und viele andere Fragen kann und will die Oper nicht geben – zum Nachdenken darüber regt sie allemal an.

Ich vermute, dass die hundertste Wiederkehr von Ligetis Geburtstag im Mai diese Jahres mit ein Anstoß war, dieses faszinierende, chamäleonhafte Werk auf den Spielplan zu setzen.

Ich möchte die Direktion daran erinnen, dass im Jahr 2026 ein weiterer großer Komponist der jüngsten Zeit den hundertsten Geburtstag feiern würde: Friedrich Cerha. Wäre das nicht ein Anlass, seine bedeutendste Oper “Baal” endlich wieder auf die Bühne der Wiener Staatsoper zu bringen? Viele Klassikbegeisterte würden es mit Freuden hören.

Dr. Rudi Frühwirth, 20. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

György Ligeti, Le Grand Macabre, Georg Nigl, Marina Prudenskaya, Slowakischer Philharmonischer Chor, Pablo Heras-Casado 14. November 2023, Wiener Staatsoper

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