Hamburg Ballett, 46. Ballett-Tage, Nijinsky Gala am 27. Juni 2021
John Neumeier vor den Mitwirkenden (Alle Fotos: Kiran West)
Nirgendwo sonst habe er, John Neumeier, bei anderen Ballettensembles eine solche innere Geschlossenheit, gegenseitige Empathie und emotionale Verbundenheit mit völliger persönlicher Hingabe an die Rollen erlebt wie bei seinem Hamburger Ballett (so genau sagte er es nicht, es trifft aber in etwa den Sinn, der dem Publikum vermittelt wurde).
von Ralf Wegner
Es lag etwas von Trauer und Abschied auf dieser Gala. Alles endet irgendwann. Der im Mai im Alter von 75 Jahren verstorbenen, großartigen ehemaligen Ersten Solistin des Hamburg Ballett Colleen Scott wurde mit dem 1. und 2. Satz des Streichquartetts in C-Dur von Franz Schubert gedacht (aus Neumeiers Wendungen). Hélène Bouchet übernahm den Part der Sterbenden, die symbolträchtig von Florian Pohl und Matias Oberlin wie am Kreuz hängend getragen wurde. Direkt nach der Pause folgte der traurige Schlussteil aus Neumeiers Glasmenagerie. Ganz großartig getanzt und interpretiert von Alina Cojocaru (Laura), Christopher Evans (Jim) und Patricia Friza (Amanda) sowie Félix Paquet (Tom), Ryan Tomash (Tennessee), David Rodriguez (Einhorn) und Olivia Betteridge (Betty). Nach einem kurzen, auch nicht recht aufmunternden Zwischenspiel aus Neumeiers Shall we dance? mit Madoka Sugai und Alexandr Trusch endete der Abend mit dem auf Verblichenes hinweisenden einsamen Gaslicht aus Neumeiers Ghost Light, zu dem sich alle Mitwirkenden wie Geistererscheinungen noch einmal auf der Bühne versammelten.
Auch John Neumeier wirkte nicht so fröhlich zugewandt wie sonst bei seinen Moderationen. Eher gab er Intimes von sich. Nirgendwo habe er bei anderen Ballettensembles eine solche innere Geschlossenheit, gegenseitige Empathie und emotionale Verbundenheit mit völliger persönlicher Hingabe an die Rollen erlebt wie bei seinem Hamburger Ballett (so genau sagte er es nicht, es trifft aber in etwa den Sinn, der dem Publikum vermittelt wurde). Und Neumeier verabschiedete sich von Ulrike Schmidt, seiner Ballettbetriebsdirektorin, die ihm 30 Jahre lang zur Seite gestanden hatte.
Auch ich habe Ulrike Schmidt einiges zu verdanken. Bei den von der Hamburgischen Staatsoper initiierten Ballettreisen nach Moskau, St. Petersburg oder London war sie stets dabei und öffnete für unsere Gruppe den Hinterbereich der Bühne, machte uns mit den Leitungen der Balletttruppen und den Solistinnen und Solisten bekannt, vor allem aber gelang es ihr stets, uns nach den Aufführungen hinter den Vorhang auf die noch vom Ensemble bevölkerte Bühne zu führen und die dortige Theaterluft zu spüren. Dass sie als Direktorin und Vertreterin von John Neumeier eine hohe Position innehatte, ließ sie sich nie anmerken. Hochmütigkeit ob ihrer Bedeutung für das Hamburger Ballett, die sie sich durchaus hätte leisten können, lag ihr völlig fern. Bereitwillig gab sie immer Auskunft, egal was man wissen wollte. Ich erinnere mich noch genau an den Oktobertag im Jahre 2012, als sie mir auf dem Weg vom Restaurant am Kreml zum Hotel entlang der Twerskaja-Straße interessiert zuhörte und auf alle das Hamburger Ballett betreffenden Fragen eine kluge, erschöpfende Antwort gab. Ulrike Schmidt war stets freundlich, zugewandt, empathisch, immer gut gelaunt und fröhlich, sie lachte oft und trug entscheidend dazu bei, unsere Ballettkenntnisse zu vertiefen. Danke Ulrike Schmidt.
Ulrike Schmidt, Silvia Azzoni, Alexandre Riabko, Edvin Revazov, Anna Laudere (Fotos: Kiran West)
Es gab auch noch anderes zu sehen. Nach einem Auftritt des Bundesjugendballetts mit einer Choreographie von Raymund Hilbert (Einsame Verbundenheit) ließen Silvia Azzoni und Alexandre Riabko uns an ihrer Paartanz-Kunst teilhaben (Chopin, aus Neumeiers Nocturne). Auch hier gilt es Abschied zu nehmen, Silvia Azzoni wird im neuen Jahresprogramm nicht mehr als Erste Solistin, sondern als Sonderdarstellerin geführt. Es ist also noch nicht ein Abschied für immer. Ida Prätorius vom Königlich Dänischen Ballett zeigte zusammen mit Aleix Martínez ihr tänzerisches Können in Neumeiers Beethoven-Projekt II, Anna Laudere, wie hingegossen in den Armen ihres genesenen Ehemannes, und Edvin Revazov beeindruckten mit ihrem faszinierenden Pas de deux aus Ghost Light. Jacopo Bellussi und Alessandro Frola tanzten unter großem Beifall des Publikums Peter und Igor (Strawinsky, Neumeier). Schließlich durfte Shakespeare nicht fehlen, Neumeier zeigte allerdings nicht den Pas de deux Hamlet-Ophelia, was angesichts der jüngsten Premiere naheliegend gewesen wäre, sondern den durchaus stärker unter die Haut gehenden aus seinem Othello, getanzt von Ryan Tomash und Astrid Elbo, beide wie Ida Prätorius Mitglieder des Königlich Dänischen Balletts.
Astrid Elbo und Ryan Tomash in Othello; Ryan Tomash, Felix Paquet, Alina Cojocaru, Patricia Friza und Christopher Evans in der Glasmenagerie (Fotos: Kiran West)
Statt angekündigter drei dauerte die Vorstellung einschließlich einer Pause vier Stunden. Um möglichst Vielen den Besuch der Nijinsky Gala zu ermöglichen, trat das Ballett zweimal auf, um 14 Uhr und um 17 Uhr. Corona-bedingt wurden, abgesehen von Mitgliedern des Königlich Dänischen Balletts, keine Gäste eingeflogen, auch wurde auf tänzerisch-artistische, sonst ein Gala-Publikum in den Bann ziehende Darbietungen verzichtet. Die Gala galt allein Neumeiers eher schwierigen, aber emotional beanspruchenden Choreographien. Auch das ist eine große Leistung, auch von den alles ermöglichenden technischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, worauf Neumeier besonders hinwies. Der Schlussbeifall war wieder überwältigend, die Technik steuerte Gewitterdonner und Konfetti von oben bei.
Dr. Ralf Wegner, 28. Juni 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at