Staatsoper Hamburg, 10. Januar 2020
Hamburg Ballett (John Neumeier), Bernstein Dances
Foto: John Neumeier, Quelle: Hamburg Ballett (c)
von Ralf Wegner
Was für ein beglückender Abend; geboten wurden zwei Stunden schönster Tanz mit einer locker verbindenden Handlung. Allein dreimal wird die mitreißende, in die Füße fahrende Candide-Ouvertüre gespielt (Philharmonisches Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Garrett Keast): als Vorspiel, nach der Pause als durchchoreographiertes Ensemblestück (angeführt von Christopher Evans, hinter dem sich 27 Tänzerinnen und Tänzer in einer sich zum Bühnenhintergrund hin öffnenden Dreiecksformation aufbauen) sowie als getanztes Nachspiel während des Schlussapplauses des jubelnden Publikums.
Die Geschichte ist kurz erzählt: Ein junger Mann (Evans alias Leonard Bernstein), offenbar Komponist, geht nach New York, lernt dort Leute kennen, lieben und verliert sie, wird berühmt, begehrt von beiderlei Geschlecht, und bleibt schließlich doch allein. Das gibt Anlass für zahlreiche Soli und berührende Pas de deux.
Christopher Evans überzeugte mit Charme, Selbstsicherheit und Weltgewandtheit als Alter Ego Leonard Bernsteins, seine Sprünge und Drehungen während eines kurzen Solos nach der Pause gerieten phänomenal, zudem erwies er sich als kongenialer Partner der sich an seiner Seite wunderbar entfaltenden Hélène Bouchet. Madoka Sugai beherrscht nicht nur die klassische Tanztechnik, sondern ebenso grandios die bei ihren Einsätzen eher geforderte moderne Bewegungssprache. Es war eine Freude ihr beim Tanzen zuzusehen. Ihr Pas de deux-Partner Aleix Martinez beeindruckte mit einem bewegungsintensiven, vom Publikum begeistert aufgenommenem Solo („Wrong Note Rag“); die ausdruckstarke Emilie Mazon war als junges Mädchen gut besetzt, als dritter Mann fügte sich Jacopo Bellussi in das Terzett der Paare ein. Als das Verwirrspiel der Liebenden beobachtender „Love“ (bei der Premierenserie 1998 noch als „Eros“ bezeichnet) überzeugte David Rodriguez, ihm war allerdings nur ein eher kurzes Solo gegen Ende des Stücks gegönnt.
Wen sollte man noch erwähnen aus der Vielzahl guter Tänzerinnen und Tänzer? Als Zuschauer ist man kaum in der Lage, alle Einzelheiten der Choreographie gleichzeitig zu erfassen. Das ist ja auch das Schöne bei John Neumeiers Balletten, bei jedem Sehen fällt einem etwas Neues, bisher nicht Wahrgenommenes ins Auge. Heute beeindruckte mich eine mehr im Hintergrund agierende Tänzerin; wenn ich es recht einschätzte, handelte es sich um Patricia Friza. Mit Marcelino Libao bleibt auch noch ein Tänzer zu erwähnen, der selten in tragenden Rollen eingesetzt wird, aber bei allen seinen kleinen Partien und im Ensemble stets zu überzeugen weiß.
Das Publikum im ausverkauften Haus war von der Aufführung begeistert. Neben den Tänzerinnen und Tänzern erhielten die auf der Bühne auftretenden Gesangssolisten Dorothea Baumann (Sopran) und Oedo Kuipers (Bariton) begeisterten Applaus, Frau Baumann auch einen aus der ersten Parkettreihe zugeworfenen Blumenstrauß. Es war insgesamt ein fröhlicher Abend, der mich zeitweilig an US-amerikanische Tanzfilme mit Fred Astaire und Rita Hayworth erinnerte, aber hier auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper schon tiefsinniger getanzt wurde. Zum Gelingen der Aufführung trugen auch die schönen Kostüme von Giorgio Armani und die vor der Pause als Hintergrunddekoration dienenden New York-Fotos von Reinhart Wolf bei.
Dr. Ralf Wegner, 11. Januar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at