Am 11. Januar 2021 feiert die Elbphilharmonie Hamburg ihren vierten Geburtstag. Anlass für klassik-begeistert.de, das von den Baukosten her teuerste Konzerthaus der Welt noch einmal im Glanze des Anfangs zu zeigen. Letzter Teil: Das Auftaktkonzert der Wiener Philharmoniker während der Eröffnungswochen im Januar 2017.
Foto: Claudia Höhne (c)
Wiener Philharmoniker, Semyon Bychkov:
Johannes Brahms/Detlev Glanert: Vier Präludien und ernste Gesänge;
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 1 D-Dur „Titan“;
Elbphilharmonie Hamburg, 22. Januar 2017
von Ricarda Ott
Nach dem Chicago Symphony Orchestra (klassik-begeistert.de berichtete) nun also der nächste große Knaller in der Elbphilharmonie: die Wiener Philharmoniker. Eine Jahrhundert-Institution der Musikgeschichte aus der Musikstadt schlechthin. Seit ihrer Gründung 1842 vereint das Orchester die besten Musiker, die besten Dirigenten und Solisten auf den Konzertbühnen rund um den Globus.
Am Sonntagabend spielte das über 100 Personen starke Weltklasse-Orchester in der Hansestadt auf der neusten und derzeit „heißesten“ Bühne. Am Dirigentenpult stand einer der weltbesten Dirigenten: der Russe Semyon Bychkov; es sang der auch in Bayreuth gefeierte dänische Bassbariton Johan Reuter – 2010 gab er im „Rheingold“ von Richard Wagner den Wotan. Dazu ein umwerfendes Programm, das drei Komponisten mit Hamburg-Bezug vereinte.
Zunächst erklangen Johannes Brahms’ „Vier ernste Gesänge“ in einer Bearbeitung des zeitgenössischen Komponisten Detlev Glanert, der auch im Publikum saß. Ein wunderbares Stück für diesen Saal: Jeder einzelne Ansatz, jeder Strich war zu hören – eine wahre Freude bei diesen begnadeten Musikerinnen und Musikern. Der Klang ist so unmittelbar, dass man glauben könnte, man säße förmlich in der Musik – unmittelbar und mitreißend.
Der Hamburger Ehrenbürger Johannes Brahms hatte diesen Liedzyklus mit Texten aus dem Alten und Neuen Testament nur ein Jahr vor seinem Tod, im Jahr 1896, vollendet – er gilt als eines seiner letzten ganz großen Werke. Ursprünglich komponiert für die Besetzung Klavier plus Gesang, thematisiert der auf vier einzelne Lieder aufgeteilte Text den Tod sowie Aspekte des Trostes und der Trauer.
War das Werk eine Art von „komponierter Todesahnung“ für den damals 63-Jährigen? Oder gar ein Abschiedsgesang für die schwer erkrankte Clara Schumann, die nur wenige Wochen nach Vollendung des Liedzyklus verstarb? Nach ihrem Begräbnis in Bonn soll Brahms selbst am Klavier die Lieder gespielt und gesungen haben. Anwesende Freunde berichteten später, dem alten, vom Leben gezeichneten Brahms seien bei den Worten „Oh Tod, wie wohl tust du“ dicke Tränen die Wangen heruntergelaufen.
Der 1960 in Hamburg geborene Komponist Detlev Glanert machte sich 2005 an die Umarbeitung der „Vier ernsten Gesänge“. Er ersetzte das Klavier durch ein großes Orchester und stellte den vier Liedern jeweils ein Präludium voran. Eine gelungene Bearbeitung! In den Präludien findet der Komponist, der noch bis 2021 als Hauskomponist am Amsterdamer Concertgebouworkest engagiert ist, eine wunderbare Musiksprache, die jene 109 Jahre ältere Musik aufgreift und gelungen fortführt. Das neu dazugesetzte Orchester exponiert das Werk in ein großes, symphonisches Ganzes und verleiht eine ungemein große Würde.
Und dann der exzellent vorgetragene, intime und zerbrechliche Gesang von Johan Reuter. Links neben Semyon Bychkov stand der mittelgroße Däne, er verzog sein Gesicht zu schmerzerfüllter Grimasse, neigte den Kopf mit trostspendendem Blick zur Seite oder ballte die Faust in tiefer Emotion. Seine volle Bassbariton-Stimme saß so gut, dass er sich scheinbar einzig um den Ausdruck des Textes und um das musikalische Umsetzen der Worte kümmern musste. Und das gelang ihm sehr gut!
Die Wiener Philharmoniker spielten ebenso sanft und gefühlsbetont. Bychkov dirigierte dieses Stück mit bloßen Händen – seine fließenden Handbewegungen wurden von den Musikern eins zu eins umgesetzt. Die Streicher webten der Clara Schumann ein wahres Todesbett aus Klängen. Nach der letzten Textzeile – Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: aber die Liebe ist die größte unter ihnen – erklingen über einem in den Streichern gehaltenen Dur-Klangteppich einzelne Holzbläser-Motive. Johan Reuter hat die Hände gefaltet und lauschte regungslos diesen himmlischen Klängen. Die Kraft der Musik floss durch den Raum und war zum Greifen nah für jeden Gast. Noch Sekunden, nachdem der letzte Bogen die Saite verlassen hat, klangen die Töne und stiegen hinauf in den großen Saal. Ergriffene Stille – dann brandete wilder Applaus auf.
Nach der Pause dann der „Titan“, Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1 in D-Dur. Ein großes und komplexes Werk, mit einer Rezeptionsgeschichte, die fast größer und komplexer ist als das Werk selbst. Aber nur fast, denn diese Musik fegt einen fort und wenn sie, so wie am Sonntag, in einem Tempel der gelebten Aufführungsgeschichte erklingt, kann nichts größer und wichtiger sein, als diese Klänge, als diese Kraft und diese Emotionen.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert stand am Millerntorplatz in Hamburg ein prächtiges Konzerthaus – ein Ort vielleicht, den man heutzutage nicht mehr primär mit Hamburgs Hochkultur verbinden würde. Eben dort, im Konzerthaus Ludwig, präsentierte Mahler 1893 seinem Hamburger Publikum (er war ja seit 1891 sehr erfolgreich Erster Kapellmeister am Hamburger Stadt-Theater, heute: Hamburgische Staatsoper) seinen neuesten Wurf. Unter dem Titel „Titan – Eine Tondichtung in Sinfonieform“ erklang jenes Werk, das er bereits fünf Jahre zuvor in Budapest unter dem Titel „Symphonische Dichtung“ komponiert hatte.
Alles beginnt Langsam. Schleppend. Wie ein Naturlaut, so die Satzbezeichnung Mahlers. Ein in den Streichern auf fünf Oktaven aufgefächertes ‚a‘ als Naturlaut: aus der Tiefe die grollende Macht der Erde und in der Höhe der Sphärenklang der Atmosphäre. Holzbläser-Einwürfe durchbrechen diesen Naturlaut: Es erklingt die Imitation eines Kuckucks, dann eine Trompeten-Fanfare aus dem Backstage-Bereich der Elbphilharmonie, die an den Menschen erinnert, die Gesellschaft fernab von diesem Idyll. Erst spät dann das erste melodische Themenmaterial: Mahler parodiert sich selbst, in dem er sich aus seinem Zyklus „Lieder eines fahrenden Gesellen“ (1884-85) bedient. Zuerst nur in den Celli, dann erklingt bald im ganzen Orchester das zitierte Material. Zwischen großen, lauten Ausbrüchen und intimen Pianostellen verkörpert der regelmäßige Paukenschlag den erdenden Puls.
Dann der 2. Satz – Kräftig bewegt, doch nicht zu schnell. Ein rumpelnder, derber Tanzsatz, der einen lyrischen, weichen Mittelteil kontrastiert und umschließt. Die Musiker spielen mit beeindruckender Wucht und im Publikum wippt so mancher Fuß im 3-er Takt mit.
Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen folgt der 3. Satz, der Trauermarsch. Ein einsamer Bass spielt über der erneut pulsierenden Pauke die bekannte Melodie des Kanons „Bruder Jakob“, bei Mahler allerdings in einem düsteren Moll dem Original entfremdet. Das Fagott steigt ein, dann die Celli und bald erklingt die Melodie kanonisch dicht im ganzen Orchester. Doch Mahler bleibt nicht bei dieser herzzerreißenden, kleinen Melodie: er kontrastiert das Kanon-Material mit schriller, rhythmischer Tanzmusik aus Ungarn und zeigt einmal mehr seine schöpferischen Qualitäten zwischen kunstfertig und derb, zwischen Emotion und Groteske. Zum Ende des Satzes dann wieder die traurige moll-Verzerrung des Volksliedes. Die Musik rollt nach und nach wie von einem Spielmannszug gespielt vorbei und verschwindet langsam in der Ferne.
Attacca geht es in den letzten Satz, den Mahler mit den Worten Stürmisch bewegt – energisch betitelt. Eine Untertreibung, möchte man sagen. Der Ausdruck der Musik ist brachial, böse, ja fast schmerzhaft. Wie Peitschenhiebe schlagen die Musiker zu: hemmungslos und ohne Mitleid. Dann eine klingende Stille, das Biest scheint gezähmt. Lyrische Streicher, gezupfte Impulse der Bässe, wunderbare Holz- und Blechbläserklänge seufzen wie in großem Leide, bis sich in der Tiefe das Ungeheuer zum erneuten Angriff rüstet: in den Celli brodelt es gewaltig.
Das Finale im 4. Satz dieser Sinfonie ist teilweise ohrenbetäubend laut. Energisch, präzise und ungemein kraftvoll. Die Musiker starren mit konzentrierter Miene und schweißnasser Stirn in die Noten. Man sieht vereinzelt Bögen, bei denen einige eingespannte Bogenhaare gerissen sind: kein Wunder bei diesen Kraftanstrengungen. Es ist absolut mitreißend, diesen Künstlern nicht nur zuzuhören, sondern ihnen bei dieser Arbeit zuzusehen!
Am Ende tosender Applaus für alle Beteiligten und schallende Bravo-Rufe im Rund des Großen Saals. Das Publikum ist begeistert! Die Wiener danken es mit drei Zugaben.
Ricarda Ott, 23. Januar 2017, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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