von Barbara Hauter
In den sensiblen Jahren der Pubertät wurde ich musikalisch von fliegenden Schlüsselbunden geprägt. Unser Musiklehrer zielte gut, erreichte damit bei mir aber vor allem eins: Ich wollte nie wieder singen. Mein letzter Bericht darüber hat Menschen bewegt. Übers Internet und WhatsApp erzählten mir einige Leser, wie es ihnen ergangen ist, von einfühlsamen Pädagogen und viel Freude im Unterricht. Mein Glaube an die positive Macht der Erziehung ist wieder hergestellt. Danke dafür.
Besonders berührt hat mich die Reaktion einer professionellen Opernsängerin. Sie lud mich spontan ein, es doch mal bei ihr mit einer Unterrichtsstunde im Fach Singen zu probieren. Sofort wurde mein ganzer Körper steif und in meinem Magen baute sich eine Backstein-Pyramide auf. Doch die beste Lebensgefährtin von allen meinte: „Probier es, über Skype kann dir ja nicht viel passieren. Notfalls machst Du einfach den Computer aus.“ Ich schlief zwei Nächte darüber. Dann sagte ich zu.
Letzten Sonntag war es soweit. Skype versagte, so startete ich eine Hangout-Sitzung. Auf dem Bildschirm erschien das lachende Gesicht der Sopranistin Agnes Selma Weiland. Ich hatte sie schon auf der Erler Bühne als Elisabeth im Tannhäuser bewundert. Und jetzt sollte ich mit ihr zusammen ein Liedchen krächzen? Mein Mut fiel in sich zusammen. Doch sie erzählte mir von ihrem mündlichen Examen im Fach Musik für die Gymnasialstufe. Ihr Prüfer Prof. Dr. Ludwig Striegel in Mainz forschte über Traumata, die mit Singen zusammenhängen. Er lehnte Singleistungskontrollen kategorisch ab: „Versprechen Sie mir, dass Sie nie zwangsweise vorsingen lassen“, gab er der damals angehenden Musiklehrerin mit auf den Weg.
Agnes Weiland versprach mir daher auch als Erstes, dass wir nicht singen. Wunderbar. Sollte ich nochmal davonkommen? „Wir können das Trauma auflösen, wenn Du Dich auf etwas anderes konzentrierst, alles, nur nicht auf Singen.“
Erste Übung: Ich denke an die Geburt meiner Tochter. Wie in der Geburtsvorbereitung hecheln wir beide bis uns schwindelig wird. Wie war das, als mein Neugeborenes schrie? Da bebte der ganze winzige Körper. Ich lerne, dass da dieser kraftvolle Ton nicht aus dem Kehlkopf kommt, der ganze Körper klingt. Das soll bei mir als Erwachsene funktionieren? Ich zweifele. Doch Agnes Weiland fordert von mir keinen Babyschrei. Noch darf ich in meiner Komfortzone bleiben. Wir sprechen miteinander Ja, ja, ja, ja, jajajajajaja ja. In verschiedenen Tonlagen, in Bögen, mal neckisch, mal fragend, mal ausrufend. Ich fühle mich leicht und gut, ein bisschen, als würde ich zum Mond fliegen. Aber das ist wohl die Aufregung und der leichte Schwindel vom ungewohnten Atmen.
Zweite Übung: Wir fahren Auto. Brumm, brumm, brumm, die Lippen vibrieren, es prickelt in der Nase. Wie ein kleines Kind bewege ich imaginäre Lkws und Sportwagen, schnell, langsam, laut, leise, geradeaus und in heißen Kurven. Ich fühle mich herrlich frisch und gut durchblutet. Agnes Weiland grinst: „Du weißt schon, dass Du die ganze Zeit singst?“ Ich schlucke und bekomme keinen Ton mehr heraus. Sofort lenkt meine Lehrerin ab: „Wir lassen das böse Wort einfach weg.“ Wir schnullen erstmal imaginäre Schokolade. Das beruhigt die Nerven. Dann plustern wir die Wangen auf und lassen nur einen winzigen Luftstrom herauspusten, sagen dazu „Piu“. Ich lerne, dass sich dabei ein von mir bislang völlig unbeachteter Körperteil bewegt: Mein Rücken, vor allem da, wo der BH sitzt. Ich bin überrascht. Wir lassen die aufgeplusterten Wangen weg und weiter geht es mit „Piu“.
Dann plötzlich habe ich das Gefühl etwas öffnet sich in mir, ich werde innen ganz weit, mein ganzer Körper vibriert mit. Ich bin für einen Moment wieder Baby. Ich fühle mich angstfrei und geborgen. Beweglich und sehr lebendig. Ich erinnere mich an ein Lied, das ich als Kind liebte. „Wenn ich ein Vöglein wäre“. Zur Überraschung meiner Lehrerin – und noch mehr zu meiner eigenen – frage ich , ob ich es mit ihr zusammen singen dürfe. Und tatsächlich: Wir lassen gemeinsam das Vöglein steigen. „Du kannst singen, du hast eine schöne Stimme“, strahlt mich meine Sopranistin an. „Sage Dir das selbst jeden Tag, als Affirmation.“
Leider war damit die Unterrichtsstunde auch schon vorüber. Ich nehme aus den kostbaren Minuten mit: Ich habe mich getraut und ich wurde dafür belohnt von einem ungekannten Gefühl der Leichtigkeit, von körperlichem und seelischem Wohlbefinden. Es ist, als wenn eine Schranke gefallen wäre, als hätte mich meine Angst vorm Singen regelrecht behindert. Ich werde Agnes Selma Weiland wohl wieder anrufen, um mit ihr zusammen meine Stimme – und damit ein Stück meiner Persönlichkeit – zu entdecken.
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Die Journalistin Barbara Hauter lebt in München.
Womöglich wäre ein solche Erfahrung gut für alle AutorInnen, die sich zuweilen sehr (zu) kritisch über SängerInnen äußern … und läßt den Respekt wachsen vor denen, die sich da auf die Bühne wagen und sich somit zur öffentlichen Diskussion stellen.
Hans-Jürgen Mende
Anmerkung des Herausgebers:
Hans-Jürgen Mende ist einer der namhaftesten und profiliertesten Klassik-Moderatoren im deutschsprachigen Raum (NDR Kultur u.a.).
Vielen lieben Dank, liebe Barbara Hauter, für diese wertschätze Beschreibung meiner Arbeitsweise.
Ich hatte auch viel Freude und freue mich auf unsere nächste Stunde!
Agnes Selma Weiland
Bravo und danke!!!
Genau solche Gesangspädagogen und auch Instrumentallehrer sind es, die Musik und Stimme (er)klingen lassen!
Christoph Alexander