Glanzauftritt eines Altmeisters: Herbert Blomstedt mit Bruckners Fünfter bei den Berliner Philharmonikern

Herbert Blomstedt Berliner Philharmoniker,  Philharmonie Berlin, 30.9.2021

Fotos: © Monika Rittershaus

„Blomstedt durchlebt die Musik, geht in jeder Phase ganz und gar mit ihr mit, lässt sich berühren und berührt uns.“

Philharmonie Berlin, 30.9.2021

Herbert Blomstedt
Berliner Philharmoniker

Anton Bruckner: 5. Sinfonie

von Kirsten Liese

Ein wenig erinnern seine Auftritte an die des legendären Günther Wand in seinen letzten Jahren. Wand dirigierte bis zu seinem Tod auswendig und im Stehen und wurde vor allem für seine Brahms- und Brucknerinterpretationen gefeiert. Das alles lässt sich auch über Herbert Blomstedt sagen, nur dass er mit 94 noch älter ist, Wand starb 2002 im Alter von 90 Jahren.

Allein im Hinblick auf die sagenhafte physische Konstitution erscheinen Blomstedt-Konzerte als eine einmalige Leistung, aber die eigentliche Sensation ist die, dass er keineswegs als Galionsfigur  vorne steht, also keiner von denen ist, bei denen ein Spitzenorchester noch irgendwie alleine spielt oder man denkt, es würde Zeit, ans Aufhören zu denken. Blomstedt durchlebt die Musik, geht in jeder Phase ganz und gar mit ihr mit, lässt sich berühren und berührt uns, wie nun auch wieder beim jüngsten Konzert mit den Berliner Philharmonikern zu erleben.

Fast noch kerzengerade steht er auf dem Podium, und wieder einmal war es faszinierend zu erleben, mit welchen minimalistischen, aber sehr plastischen Handzeichen und Armbewegungen – Blomstedt dirigiert ohne Taktstock – er die Musik nachzeichnet. Wird sie wie vor allem im Scherzo etwas tänzerisch, schaukelt er von links nach rechts mit den Armen, steht ein kraftvoller Einsatz bevor, streckt er auch schon mal den Zeigefinger.

Besonders faszinierend war es dabei zu erleben, wie Blomstedt mit seinen minimalistischen Zeichen die jeweiligen Sphären, in denen sich die Musik bewegt, treffend einfängt. Das beginnt gleich in den ersten Takten der leisen Einleitung im Adagio mit den Pizzicati in den tiefen Streichern und den lichten Schwebe-Klängen in den hohen darüber. Geheimnisvoll langsam setzt sie ein, und kaum möchte man sich in die warmen, beruhigenden Klänge hineinlegen wie in ein Bett, wird man mit dem ersten  Fortissimo-Einbruch jäh aufgeschreckt. Ja, auch diese folgende majestätische aufsteigende Unisono-Phrase besitzt hier trotz minimaler Handzeichen eine ungeheure Kraft. Danach kann sich das punktierte, markante Hauptthema – erstmals aus dem Nichts von Bratschen und Celli angestimmt – entfalten, von den Berlinern süffig mit sattem, vollen Klang zelebriert.

Der vielleicht größte atmosphärische Moment ereignet sich dann im zweiten Satz, dem „sehr langsamen“ Adagio. Es beginnt auch wieder mit leisen Pizzicati in den Streichern und einem  sich darüber erhebenden, von Albrecht Mayer berührend schön gespielten, schwermütigen Oboensolo. Der entscheidende Moment ereignet sich beim mit „sehr kräftig, markig“ überschriebenen zweiten Thema in den Violinen: Nach der vorangegangenen Generalpause geht sprichwörtlich die Sonne auf und die Violinen setzen mit einem der vielleicht schönsten und trostreichsten lyrischen Themen ein, die Bruckner je geschrieben hat. Kein Wort kann diesen Moment emotional vielleicht treffender beschreiben als das heute kaum noch gebräuchliche „wonniglich“ aus dem Wortschatz Richard Wagners, das es hier aber ganz und gar trifft.

Die Celli spielen dieses Motiv wenige Zeit später freilich auch nochmal und wenn ich auf die Musiker schaue, allen voran auf den Solocellisten Ludwig Quandt, seine Mimik und Körpersprache, dann kann ich die besondere Sensitivität beim Musizieren sehen. Und das ist weiß Gott – auch bei einem Spitzenorchester wie den Berlinern – kein Selbstläufer. Und es ist ein Moment wie dieser, in dem sich bestätigt, was Blomstedt im Interview mit Tobias Möller (im Programmheft) sagt: „Mahler dokumentiert in seinen Symphonien seine Krisen, Bruckner überwindet sie“. Mag zuvor und danach auch immer wieder die Dramatik in tiefste Abgründe führen, am Ende kommt Bruckner immer wieder im Licht an.

„Bruckner erfordert Ruhe, die viele nicht haben“, sagt Blomstedt darüber hinaus, „wir alle sind ja gejagte Menschen in einer hektischen Welt“. Wie wahr! Auch das vermittelt sich im Konzertsaal. Wie oft sind schon jüngere Kolleginnen und Kollegen viel zu schnell durch die Sätze geprescht, den besten Bruckner dirigieren immer noch die Älteren und Alten, Muti, Thielemann, Blomstedt oder auch Zubin Mehta. Interessante Beobachtung am Rande: So sehr sich diese Kaliber in ihrer Persönlichkeit und Dirigierart unterscheiden, so dicht liegen sie doch klanglich allesamt beieinander, sehr dicht. Was sagte doch Sergiu Celibidache: Es gibt nur eine Wahrheit. Da scheint etwas dran zu sein.

Gerade auch im Finalsatz, in dem Bruckner als genialer Kontrapunktiker noch einmal Motive aus den ersten beiden Sätzen zitiert und mit neuen verbindet und ineinander verschränkt, braucht das Ohr zum Erfassen all dessen moderate Tempi. Für Momente kam einem bei der Interpretation dieses Abends aber auch ein Schmunzeln über die Lippen, wenn die großangelegte Fuge mehrfach brüsk abreißt und sich wie eine Fratze ein kurzes Motiv, allein von einer einzigen Klarinette, dazwischen schiebt (großartig: Andreas Ottensamer). Lange Strecken, die Blomstedt an die Bergketten in St. Florian erinnern, folgen und ganz am Ende bricht sich dann in unendlichen Wiederholungen noch einmal das Kopfmotiv aus dem ersten Satz mächtig Bahn. Noch einmal und noch einmal und noch einmal. Nach dem letzten Ton hat Blomstedt kaum noch eine Chance, einen Moment der Stille einzufordern, ein erstes Bravo eröffnet stehende, verdiente Ovationen. Was für ein Abend.

Kirsten Liese, 2. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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