Herbert Blomstedt © Reinhard Winkler
Anton Bruckner, Symphonie Nr. 9 d-Moll, WAB 109
Herbert Blomstedt, Dirigent
Bamberger Symphoniker
Stiftskirche St. Florian, 11. Juli 2024
von Dr. Andreas Ströbl
Schon im Vorfeld hatte das Konzert am 11. Juli 2024 in der Stiftskirche St. Florian Legendencharakter – Bruckners „Neunte“ direkt oberhalb seiner Grablege, dirigiert von Herbert Blomstedt an seinem 97. Geburtstag.
Kulturwissenschaftler, die sich mit historischen Bestattungen beschäftigen, wissen, dass sein wohlbalsamierter Leichnam auch heute noch Portraitähnlichkeit besitzt, und so mag man sich vorstellen, dass der Schöpfer dieses unvollendeten letzten Werkes seiner glanzvollen Umsetzung aus der Tiefe des Grabkellers lauschte. Doch halt – hat nicht Otto Böhler in einer seiner bekannten Silhouetten Bruckners Aufnahme in den Himmel illustriert?
Ob aber nun der fromme Meister sein Dasein im Jenseits mit einer fliegenden Schar von musizierenden Engelein und all seinen Vorgängern und Idolen fristen mag, wird bis auf Weiteres nicht zu klären sein. Sicher dürfte sein, dass er die Wiedergabe seiner 9. Symphonie durch die Dirigenten-Legende Blomstedt und die Bamberger Symphoniker begeistert und dankbar aufgenommen haben würde.
Gerade in St. Florian kommt man kaum umhin, nach den religiösen Aspekten in Bruckners Musik zu fragen – wohlgemerkt, in der Musik selbst, denn der tiefkatholische biographische Hintergrund ist ja hinlänglich bekannt. Blomstedt hat einmal in einem Interview über Bruckners Symphonien gesagt, sie seien „nicht im eigentlichen Sinne religiös oder katholisch. Sie sind allgemeingültig.“ Daher ist die Universalsprache Bruckners auch nichtreligiösen Menschen zugänglich, ja genießt mitunter parareligiöse Verehrung, und das über alle Kulturräume hinweg.
Herbert Blomstedt hat immer wieder versucht, seinen kühlen schwedischen Landsleuten diese leidenschaftliche Musik nahezubringen, aber, wie er selbst bezeugt, mit mäßigem Erfolg. Seit Jahrzehnten werden aber des Maestros Bruckner-Interpretationen weltweit bejubelt und das Konzert am 11. Juli gleichermaßen am Original-Schauplatz reiht sich ganz besonders glänzend in diese Erfolgs-Perlenschnur ein.
Zuvor aber nahm der Jubilar ein spontanes Geburtstagsständchen der Führungsteilnehmer im Stift St. Florian entgegen, das diese anstimmten, als er gerade in den Innenhof kutschiert wurde. Zum Dank winkte er mit seiner rechten Hand aus dem Autofenster, der eleganten Hand, die wenig später Bruckners Schöpfung hörbar machen sollte.
Bereits der enthusiastische Begrüßungsapplaus war eine triumphale Würdigung dieses einmaligen Dirigenten, der die Huldigung mit der ihm eigenen Bescheidenheit entgegennahm.
Die Stiftskirche St. Florian ist naturgemäß für die Aufführung einer Symphonie mit großem Orchester eine besondere Herausforderung. Einerseits ist die Akustik großartig, andererseits müssen alle Mitwirkenden natürlich mit dem üblichen Hall eines riesigen Kirchengebäudes gerade bei einem üppigen Klangkörper umzugehen wissen.
Die sanften Passagen des eröffnenden „Misterioso“ zauberten tatsächlich eine mystisch-abgeklärte Feierlichkeit und da verlieh der Hall der Musik einen zarten Überzug durch ein leicht nebliges Verschwimmen, wie man es als „Sfumato“ von den Gemälden Leonardo da Vincis kennt.
Insgesamt pflegte das Orchester einen warmen, ja leidenschaftlichen Bruckner-Klang, der allein schon aufgrund des Ambientes des Sakralen nicht entbehrte, aber gleichsam sehr sinnlich und lebensfroh gebildet war. Wenn man unter dem Gewölbe mit dem Fresko der Marienkrönung sitzt, all die verspielten Putti, kostbaren Schnitzwerke, würdigen Heiligenskulpturen und den feinen Zierrat der gemalten Scheinarchitektur, ja, dieses Bildwerk gewordene „Hallelujah!“ betrachtet, dann kann einem beim Genuss dieser erhabenen Musik schonmal der Gedanke an die Konversion an’s Herztürlein klopfen.
Schmiegsame Weichheit und ein breites, rauschhaftes Klangbett charakterisierten diese Interpretation, die das Majestätische der „Neunten“ strahlen, aber eben auch all ihre Zartheit erblühen ließ. Das nahezu perfekt spielende Blech weit hinten im Chorraum sorgte für eine phantastische Tiefe, die Streicher spielten mit ungemein sahnigem Schmelz.
Blomstedts freundliche Zugewandtheit spiegelte sich in den frohen, lächelnden Gesichtern der Musikerinnen und Musiker; eine der Violinistinnen sollte im Gespräch nach dem Konzert die Menschlichkeit und ruhige Autorität des Maestros bestätigen, er könne „aber auch mal reinhauen“, wenn etwas nicht funktioniere – selbstverständlich auch dies mit väterlicher Freundlichkeit.
So fein das Pizzicato zu Beginn des Scherzos gebildet war – beim machtvoll-entschlossenen Stakkato dröhnte das Blech doch raumbedingt stark wummernd über die Streicherlinien. Blomstedt wollte es aber tatsächlich krachen lassen, so die sympathische Geigerin, und an diesem besonderen Tag am exklusiven Ort nicht kleinlich kleckern, sondern kraftvoll klotzen.
Dennoch traten all die delikaten Finessen deutlich hervor, die Blomstedts große Hände mit den feingliedrigen Fingern wie ein Prometheus scheinbar aus überirdischem Material formten.
Gerade dieser dritte Satz verbindet das 19. mit dem 20. Jahrhundert und schlägt die Brücke von Wagner zu Mahler, der ja immer wieder als Erbe Bruckners bezeichnet wird. Die „Neunte“ enthält gleichsam einen musikalischen Testamentseintrag und wer beim Beginn des Satzes an die ersten Takte des „Adagio“ von Mahlers ebenfalls unvollendeter 10. Symphonie denkt, dem wird klarwerden, wo deren Wurzeln liegen.
Das Unvollendete der „Neunte“ findet doch seine Vollendung, denn die letzten Töne sind von transzendenter Größe und Schönheit. Mehr bedarf’s nicht und so mag das Finale dieses letzten Werks sowohl hinab in des Meisters Gruft erschallen als auch nach oben, durch den gemalten in den wirklichen Himmel. Hat der liebe Gott Bruckners Wunsch auf Werkvollendung deswegen nicht entsprochen, weil er meinte, es sei der Dreifaltigkeit mit den drei Sätzen gerade recht entsprochen? Vielleicht so in der Art wie: „Anton, pack di zamm – ’s is ois guat, wie’s is!” – man möchte sich nicht blasphemischer Überhebung zeihen lassen, aber dem längst über den Wolken Musizierenden doch etwas ähnliches zurufen, in tiefster Verehrung.
Doch zuvor – Stille. Blomstedt hielt die eleganten Hände oben, sehr lange. Mucksmäuschenstill war das Publikum in der vollbesetzten Stiftskirche. Erst als der Jubilar das Zeichen gab, brandete der Beifall los, Werk und Darbietung würdigend und vor allem einem der ganz Großen huldigend, dessen Applaus lange dem Orchester galt, bevor er sich seinen begeisterten Zuhörern zuwandte.
Es hätte sicher noch eine Viertelstunde Beifall gegeben, aber Blomstedt zog sich, mehr als verdient, gestützt vom Konzertmeister, zurück. Im Innenhof gab es dann noch ein Ständchen, von vielen dankbaren Menschen, die sich glücklich schätzten, an diesem Tag in St. Florian gewesen zu sein.
Dr. Andreas Ströbl, 13. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
P.S.: Ein Besuch in St. Florian gerade im Bruckner-Jahr lohnt unbedingt, denn es gibt zahlreiche Veranstaltungen, eine Ausstellung und ohnehin das prachtvolle Stift mit seinen architektonischen Perlen und den Prunkräumen mit ihrer einzigartigen Ausstattung. In den Bruckner-Zimmern findet man viele Originalgegenstände, wie den einfachen Tisch, an dem die Symphonien entstanden, und dann ist es selbstverständlich Pflicht, sich mit Ehrfurcht dem metallenen Sarg in der weitläufigen Gruft zu nähern. Jochum, Celibidache und ungezählte andere Größen waren bereits dort, nur Herr Boulez empfand es während seines Gastpiels in St. Florian als nicht notwendig, hinabzusteigen in des Meisters Grablege.
Na, wer nicht will, der hat schon…
Herbert Blomstedt Berliner Philharmoniker, Philharmonie Berlin, 30.9.2021
CD- Rezension: Anton Bruckner, Symphonien 1-9, Berliner Philharmoniker