Meister-Genuss nach Buh-Gewitter – „Holländer“ und „Lohengrin“ begeistern in Bayreuth

„Holländer“ und „Lohengrin“ begeistern in Bayreuth  Bayreuther Festspiele 2022

Foto: Der fliegende Holländer. Bayreuther Festspiele © Enrico Nawrath

Bayreuther Festspiele 2022

Richard Wagner, Der fliegende Holländer (Aufführung vom 6. August 2022)

Richard Wagner, Lohengrin (Aufführungen vom 4. und 7. August 2022)

Auch in die kleinste Klinze der Welt dürfte gedrungen sein, dass wer heuer zur Freude an des Ringes neuem Glanze in den Tempel auf dem Grünen Hügel pilgerte, in einer inszenatorischen Fafner-Höhle gelandet war. Die „Buhs“ nach der „Götterdämmerung“ am 5. August 2022 hörte man noch in New York, Mailand, Hamburg und Walhall. „Kinder! Macht Neues!“, erinnerte man sich des Meisters Wort, aber wer dekonstruiert, um Neuem die Bahn zu ebnen, muss halt mit einem gelungenen Gegenentwurf aufwarten.

von Dr. Andreas Ströbl

Tatsächlich war man in den ersten Augusttagen 2022 in Bayreuth besser bedient, wenn man sich die Produktionen der vergangenen Jahre mit frischer Besetzung und ebensolcher musikalischer Umsetzung ansah und -hörte.

Welchen Kontrast zum Vortag bot der brandende Beifall nach dem „Fliegenden Holländer“ am 6. August! Allerdings war dies kein Erleichterungs-Applaus für eine Inszenierung und musikalische Darbietung, in der die Welt im Bayreuther Tempel nun wieder in Ordnung ist, sondern die aufrichtige und begeisterte Würdigung einer großartigen Gesamtleistung von Regie, Solisten, Chor und Orchester.

Bayreuther Festspiele 2022; Der fliegende Holländer; Insz. Dmitri Tcherniakov

Der psychoanalytische Ansatz von Dmitri Tcherniakov, mit der er im vergangenen Jahr die Wagner-Gemeinde überraschte, ist absolut stimmig und überzeugend, wenngleich wesentliche Handlungsaspekte stark vom Libretto abweichen. Ähnlich wie in Friedrich Dürrenmatts Drama „Der Besuch der alten Dame“ kehrt hier das traumatisierte Mitglied einer Kleinstadtgesellschaft in seine Heimatstadt zurück, um Rache für erlittenes Unrecht zu nehmen. Daland, hier ein schmieriger Kaufmann, der seine Unaufrichtigkeit hinter einer spießigen Fassade verbirgt, hatte viele Jahre zuvor ein Verhältnis mit der Mutter des Holländers und sie schmählich sitzenlassen. Seine Ablehnung und die soziale Ausgrenzung der gesamten Bevölkerung hatten die zur Außenseiterin gewordene Frau in den Suizid getrieben, den der kleine Sohn miterleben musste.

Bayreuther Festspiele 2022; Der fliegende Holländer; Insz. Dmitri Tcherniakov

Es dürfte für Kinder kaum etwas Schlimmeres geben, als wenn sich ein Elternteil das Leben nimmt – noch dazu vor den eigenen Augen. Diese Schlüsselszene ist hart, technisch ausgezeichnet umgesetzt und macht all das, was in der Folge passiert, plausibel. Der im Subtext zur während der Ouvertüre szenisch erzählten Vorgeschichte als „H.“ bezeichnete Kapitän befindet sich seitdem in einem psychischen Ausnahmezustand. Seine Ruhelosigkeit ist in dieser Deutung nicht die eines von Gott Verfluchten. Dies ist ein Mensch, der nicht zu gesunden Beziehungen in der Lage ist, weil die Obsession der Rache aufgrund des erlittenen Traumas ihn zum rastlosen Sucher nach etwas macht, das nur durch eine gute und langjährige Therapie zu erreichen wäre: Die innere Erlösung von der Besessenheit, sein Recht mit Gewalt durchzusetzen. Diese Version von Wagners eigentlich romantischer Oper endet entsprechend in einer Katastrophe.

Senta ist zwar auch hier bereit, sich für ihre Liebe oder vielmehr ihrer Idee davon zu opfern, aber die dramatische Zuspitzung der Ereignisse verhindert einen glücklichen Ausgang, bei dem beide, wie es in Wagners Libretto heißt, „in verklärter Gestalt“ dem Himmel zustreben. Der Konflikt spitzt sich zu, als beim fröhlichen Fest der Stadtbewohner diese die Seeleute des fremden Schiffes provozieren, weil sie durch ihr freudloses und distanziertes Verhalten auffallen.

Als sich eine handfeste Auseinandersetzung zwischen einem der Stadtleute und einem der fremden Matrosen entzündet, ballert der Holländer in die Menge und erschießt drei Unschuldige. Senta, auf ihre Weise ebenfalls besessen und jenseits der Möglichkeit einer glücklichen Lebensführung, hat sich durch eine Ohrfeige von ihrem Verlobten Erik öffentlich verabschiedet und ist immer noch bereit, sich ihrer wahnwitzigen Zwangsvorstellung hinzugeben. Währenddessen haben die Leute des Holländers die Stadt in Brand gesteckt und Chaos bricht aus.

Bayreuther Festspiele 2022; Der fliegende Holländer; Insz. Dmitri Tcherniakov

Mary, die Lebensgefährtin Dalands, weiß offenbar um das explosive Potential dieser Konstellation und aus ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Holländer spricht ein tiefes Wissen. Kurz entschlossen erschießt sie den mörderischen Eindringling, Senta bricht erst in wahnsinniges Lachen aus, verfällt dann in apathische Resignation, der Vorhang schließt sich und nichts ist gut.

So bitter diese Interpretation ist – sie bietet endlich einmal einen anderen, glaubwürdigen Ansatz jenseits Wagners egomaner Phantasie der Erlösung des Rastlosen durch die selbstlose Liebe einer Frau, die das eigene Leben einsetzt, um den getriebenen Künstler zur Ruhe zu verhelfen. So geht das heute nicht mehr.

Der schlüssigen Neudeutung entsprechend bescherten Sängerinnen und Sänger, Musikerinnen und Musiker einer diszipliniert lauschenden Wagner-Gemeinde einen atmosphärisch dichten und spannungsgeladenen Opernabend. Oksana Lyniv hatte das Festspielorchester straff und akzentreich in der Hand, nur selten war es etwas zu laut. Der Chor unter Eberhard Friedrich war vor allem zu Beginn sehr stark, lediglich im dritten Aufzug gab es ein paar Unstimmigkeiten in der Synchronizität mit dem Orchester. Aber die leidenschaftliche Aufwallung in Vorbereitung der Konfliktszene enthielt – auch darstellerisch hervorragend – eine packende, elektrisierende Anspannung.

Georg Zeppenfeld, ohnehin eine sichere „Bayreuther Bank“, gab den unseriösen Kaufmann wunderbar facettenreich und psychologisch ausgelotet. Attilio Glasers Steuermann war grandios kraftvoll und auch spielerisch als besoffener Seemann eine Augenweide. Ganz Wagners Vorgaben entsprechend gestaltete Eric Cutler seinen Namensvetter Erik mit überzeugender Aufrichtigkeit und voller Unverständnis für Sentas Wahn. Dieser Mann ist ein echtes Opfer der entsetzlichen Geschichte. Nadine Weissmann als Mary sang mit leicht kehliger Stimme, die aber sehr gut zur Rolle der alten, mütterlichen Frau passte, die am Ende über sich hinauswächst und endgültige Tatsachen schafft – weil es die Männer ja nicht hinbekommen.

Thomas Mayers Holländer war von Beginn an weniger unheimlich als innerlich angespannt, auch bei ihm war die gut ausgearbeitete Personenregie deutlich zu vermerken. Seine starke, volle Stimme verlieh der Rolle Autorität, aber gab auch dem nach Liebe Suchenden einen geradezu zärtlichen Ausdruck. Schließlich aber verblieb, dem dramatischen Ausgang angemessen, nur noch eine brutale Härte. Elisabeth Teige, die am Tag zuvor schon als Gutrune brilliert hatte, war der unumstrittene Star dieser Aufführung. Diese Senta spielt mit dem trotzig-mädchenhaften Billie Eilish-Image und ist von Beginn an eigensinnig und dadurch stark – auch trotz des rollenimmanenten Opferstatus. Mit diesem zornigen Mädchen ist nicht zu spaßen; sie lässt sich nicht von ihrer Überzeugung abbringen und zieht ihr Ding durch. Stimmlich und spielerisch ist diese Sängerin fulminant und auch in den Extrempassagen absolut sicher.

Was für eine erstklassige Aufführung! Das Publikum gab seiner Begeisterung mit zahllosen Bravo-Rufen und bald zum großen Teil stehend Ausdruck.

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Wer das Glück hatte, dem Vortrag des Musikwissenschaftlers und Komponisten Hans Martin Gräbner im Rokoko-Saal des Steingraeber & Söhne Haus beiwohnen zu dürfen, bekam eine charmante und kenntnisreiche Einführung in das Werk mit dem Hintergrund seiner Entstehung und zahlreichen Musikbeispielen. Gräbner spielt mit Leidenschaft auf dem Liszt-Flügel und singt selbst, egal, ob Tenor oder Bariton. Seine Ausführungen würzt er mit liebenswürdigem Humor und vermittelt Details, die auch für eingefleischte Wagnerianer manches Neues enthalten. Diese regelmäßige Veranstaltung ist unbedingt empfehlenswert und rechtzeitiges Kommen angesagt!

Die Neuauflage des „Lohengrin“ in der Inszenierung von Yuval Sharon ist hinlänglich besprochen worden und so verbleibt an dieser Stelle vor allem zu bemerken, dass sowohl am 4. als auch am 7. August der Holzboden im Zuschauerraum von begeistertem Fußgetrappel erbebte und schnell keiner mehr auf den harten Stühlen sitzenblieb – weniger aus Erlösung als vielmehr, um der Begeisterung für eine phantastische musikalische und sängerische Umsetzung Ausdruck zu geben.

Bayreuther Festspiele 2022; Lohengrin; Insz. Yuval Sharon

Bernhard Neuhoff von BR-Klassik hat völlig recht, wenn er dem Ausstatter Neo Rauch den klaren Vorrang vor der Regie einräumt. Gleich zwei Klassiker der Wagner-Rezeption, nämlich Friedrich Nietzsche und Thomas Mann, verbanden die Musik des „Lohengrin“ synästhetisch mit der Farbe Blau. Für Nietzsche waren es vor allem „die opiatischen und narkotischen Wirkungen“ in Wagners romantischer Oper, die er als „blau“ wahrnahm. Das Assoziations- und Symbolspektrum reicht von Ruhe, Klarheit, Kälte und Reinheit über Treue, Harmonie, dem Himmel, dem Meer, die Unendlichkeit bis zu Nacht und Tod, aber Neo Rauch wählte laut persönlicher Mitteilung für die Bayreuther Inszenierung von 2018 die Farbe Blau, weil dies seiner Intuition beim Hören der Musik entsprang – hier ist er Nietzsche nahe. An anderer Stelle führt er als Grund das Delfter Blau von Porzellantellern oder Kacheln bzw. Fliesen an; schließlich spielt der „Lohengrin“ nun einmal im kulturräumlich benachbarten Brabant.

Vor dem Hintergrund einer malerischen Konzeption lohnt der Blick auf die programmatische Schrift eines Malers und Kunsttheoretikers, der sich intensiv mit den synästhetischen Wirkungen von Farben auseinandergesetzt hat. Wassily Kandinskys Buch „Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei“ erschien 1911 zur Eröffnung der ersten Ausstellung der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“. Der namengebenden, „himmlischen“ Farbe spricht Kandinsky eine konzentrische Bewegung zu. Wesentlich sind hierbei die von ihm empfundenen musikalischen Qualitäten der unterschiedlichen Blautöne: hellblau ähnelt den Tönen einer Flöte, dunkelblau hingegen denen des Cellos, dunkler werdend lässt es an die Bassgeige denken und „in tiefer, feierlicher Form ist der Klang des Blau der tiefen Orgel vergleichbar“.

Bayreuther Festspiele 2022; Lohengrin; Insz. Yuval Sharon

Das Maler-Ehepaar Neo Rauch und Rosa Loy entschied sich dafür, Bühnenbild und Kostüme blau zu gestalten, und zwar nicht nur leitmotivisch, sondern – bis auf wenige Ausnahmen im Komplementär-Orange – dominant. Yves Klein hätte seine hellblaue Freude daran gehabt.

Zahlreiche Aspekte der Inszenierung verbleiben kryptisch wie die Puschelhosen und Insektenflügel der Brabanter, die damit ein bisschen an Kinderbuch-Karikaturen der insektoiden Geonosianer aus der „Star Wars“-Reihe erinnern. Auch fragt man sich, warum der grüne Ampelmännchen-Gottfried plötzlich von rechts unvermittelt hereinspaziert kommt, anstatt irgendwo aus dem Hintergrund zu erscheinen, wohin auch Lohengrin entschwinden wird.

Camilla Nylund (Elsa), dahinter Petra Lang (Ortrud) und Martin Gantner (Telramund). Foto: © Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Was aber absolut überzeugt, ist das brillante Dirigat von Christian Thielemann, das all das Feine, Seelenvolle und Innig-Schöne in dieser Musik zum Gleißen bringt. Man kann das Vorspiel zum dritten Aufzug militärisch schmettern lassen; bei Thielemann erhebt sich eine frohe Feierlichkeit ohne jede Tümelei.

Und ja – der Knabentenor von Klaus Florian Vogt lässt in vielen seiner Rollen eine kernige Männlichkeit vermissen. Bis auf seine ersten Sätze bei der Ankunft in Brabant allerdings ist von dieser sonst oft zu dünnen Höhe nichts zu hören. Vogt gibt einen kantigen, klaren Schwanenritter, der auch spielerisch überzeugt. Niemand singt die Stelle mit der Taube in der Gralserzählung so sanft und vokalstreichelnd wie er und eine beginnende Heiserkeit zum Ende der Passage wirkt an diesem Abend eher markant als müde.

Klaus Florian Vogt als Lohengrin bei den Bayreuther Festspielen 2019. Foto:© Enrico Nawrath/ Bayreuther Festspiele 2019

Kleiner Schlenker zur politischen Korrektheit bzw. einem Auswuchs derer, die in dieser Inszenierung nun auch ins Libretto gepackt wurde: Gottfried wird, wie Lohengrin, lediglich zum Schützer, nicht zum Führer von Brabant ausgerufen. Das war im Vorfeld noch kurzfristig geändert worden, um bloß keine Nähe zur braunen Geschichte des Grünen Hügels aufkommen zu lassen. Nun – dann hätte man konsequenterweise auch die ganzen „Heil!“-Rufe streichen müssen. Aber da hätte sich die Suche nach einer Alternative schwierig gestaltet. Ganz persönlich eingeworfen: Den Nazis gehört nichts, nicht die deutsche Sprache, nicht Wagner (trotz seiner antisemitischen Steilvorlagen) und auch nicht Bayreuth. Da sollte man drüberstehen können.

Die fast durchweg herausragenden Leistungen all der anderen Solistinnen und Solisten sowie des grandiosen Chores sind an anderer Stelle entsprechend gewürdigt worden und so seien hier den diesjährigen Festspielen weitere glänzende, mitreißende und packende Abende bis zum Abschlusskonzert am 1. September gewünscht.

Dr. Andreas Ströbl, 9. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Richard Wagner, Lohengrin Bayreuther Festspiele, 7. August 2022

Richard Wagner, Lohengrin Bayreuther Festspiele, 4. August 2022

Richard Wagner, Der fliegende Holländer  Festspielhaus, Bayreuth, 06. August 2022

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