Igor Levit im Wiener Konzerthaus: Für diese Momente lebt man!

Igor Levit, Klavier, Wiener Symphoniker,  Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal, 5. Juni 2020

Solange einem diese Momente geboten werden, lohnt ein jeder Konzertbesuch. Für diese Momente pilgert eine Seele wie meine ins Konzert. 

Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal, 5. Juni 2020
Wiener Symphoniker
Igor Levit, Klavier
Sophie Heinrich, Konzertmeisterin, Leitung
Foto: Robbie Lawrence (c)

von Jürgen Pathy

Endlich! Nach 88 Tagen des Stillstands, der kulturellen Einöde und des coronabedingten Wahnsinns hat das lange Warten ein Ende. Einstweilen zumindest. Das Wiener Konzerthaus öffnet wieder seine Pforten. Vorerst zwar nur für 100 Personen, aber immerhin. Ein großer Moment, auf den man in Wien schon sehnsüchtig hin gefiebert hat. Die Frage, ob sich das finanziell lohnt, erübrigt sich erstmal. „Es rechnet sich nicht“, erzählt Matthias Naske, der Intendant des Wiener Konzerthauses, im Ö1-Radio-Interview. Doch das war nicht der Beweggrund der Wiedereröffnung. „Dieses Haus lebt seit 106 Jahren für nichts anderes, als Menschen zu verbinden, mit musikalischer Exzellenz zu verbinden – deshalb können wir gar nicht anders.“

Das Programm, mit dem das Wiener Konzerthaus nach dieser langen Zeit des Dornröschenschlafs wieder erwacht, weckte bereits im Vorfeld große Hoffnungen: Die Wiener Symphoniker und Igor Levit begrüßen das Publikum mit Musik von Mozart und Grieg. Unerwartet übrigens. Niemand konnte bis vor kurzem ahnen, geschweige denn wissen, dass es im Juni bereits wieder Live-Konzerte geben würde. Dafür bedankt sich Matthias Naske, der zu Beginn des Konzerts vor das Publikum tritt, bei Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, die ebenfalls unter den Anwesenden weilt und vermutlich ein Wort mitzureden hatte bei dieser kurzfristigen Entscheidung. Eine gute Entscheidung, mit einem Wermutstropfen. Aufgrund von Wartungsarbeiten, die vorverlegt wurden, kann der Große Saal an diesem und am folgenden Abend nicht genutzt werden, und das Konzert wurde in den Mozart-Saal verlegt.

Für Mozarts Klavierkonzert Nr. 12, auch bekannt als „kleines A-Dur Konzert“, zwar ein hervorragender Schauplatz. Für die Wiener Symphoniker, deren Kernrepertoire insbesondere die hochromantische Konzertliteratur beinhaltet – Brahms, Bruckner, Mahler und Richard Strauss seien hier stellvertretend genannt – kein optimaler Schauplatz. Zu dick, zu schwer klingt der ganze Apparat im kleineren Mozart-Saal, der hauptsächlich für Kammermusik, Klavierabende und Liederabende genutzt wird. Vor allem im Kopfsatz, einem der schönsten in Mozarts Schaffen, ist die Dominanz des Orchesters beinahe erdrückend. Dessen kann sich auch Igor Levit anfangs nicht wehren.

Der in Russland geborene Pianist gilt zurzeit als das Maß aller Dinge – zumindest was Beethoven betrifft oder Musik der Moderne. Mit Mozart oder Schubert, dessen Moment musical in f-moll er als Zugabe dran hängt, assoziiert man seinen Namen weniger. Anfangs zurecht. Zwar jonglieren er und Konzertmeisterin Sophie Heinrich, die den Abend vom ersten Pult aus leitet, die Einsätze energisch und hingebungsvoll hin und her, der Ton klingt jedoch nicht so perlend und spielerisch leicht, wie man ihn von Levit schon gehört hat.

Nach seinem 16-stündigen Klaviermarathon, den er vor wenigen Tagen in einem Berliner Studio aufs Parkett gezaubert hatte, um auf die Probleme von Künstlern hinzuweisen, wirkt Levit zu Beginn nicht so frei. Sein Gestus ist zwar frisch und beherzt, sein Lächeln wirkt glücklich und erleichtert, endlich wieder vor Publikum auftreten zu dürfen. Dennoch ist der Ton nicht so beseelt und obertonreich, wie man ihn sich von einem Musiker seiner Klasse erwarten darf. Bis er findet, wonach er sucht, dauert es auch ein wenig. Erst im Andante, in dem Mozart seinem verstorbenen Mentor Johann Christian Bach ein Denkmal setzte, offenbart sich die Kunst des „Jahrhundertpianisten“, wie er von einigen Kollegen bezeichnet wird. Mit einem vor Intensität und Intimität nur so beseeltem Ton trifft er genau dort hin, wo es zählt – ins Herz! Melancholie, Freude und Hoffnung, alles scheint in diesen Momenten vereint. Atemberaubende Momente. Momente, die einem klarmachen, wie wichtig Live-Musik im Leben eines Menschen sein kann. Wie unersetzlich, beinahe wie die Luft zum Atmen.

Da spürt man nicht nur Mozarts Schmerz über den Verlust seines Freundes, nein – wenn Igor Levit in großem Bogen das Hauptthema zelebriert, eine Melodie aus einer von Johann Christian Bachs Ouvertüren für Orchester, spürt man auch die vergangenen 88 Tage! Die Ungewissheit, das Gefühl der Machtlosigkeit, die Angst, ob es jemals wieder so werden wird, wie zuvor. Aber auch die Hoffnung, die Freude, das Privileg, wieder im Konzertsaal sitzen zu dürfen, und Musik nicht nur zu hören, sondern zu inhalieren, zu schmecken, zu fühlen.

Da juckt es auch kaum, dass die Orchestersuite von Grieg danach nicht so bittersüß klingt, wie erhofft. Solange einem diese Momente geboten werden, lohnt ein jeder Konzertbesuch. Für diese Momente pilgert eine Seele wie meine ins Konzert. Für diese Momente lebt sie! Man kann nur hoffen, dass sich wieder alles halbwegs normalisiert. Dass es nie wieder so lange dauern wird, bis das Wiener Konzerthaus mit Leben gefüllt wird. Denn, egal wie großzügig alle Institutionen die Zeit des Corona-Shutdowns mit Streaming-Angeboten überflutet haben, das Live-Erlebnis können diese Konserven bei weitem nicht ersetzen.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 6. Juni 2020, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Wolfgang Amadeus Mozart
Ouvertüre zu „Der Schauspieldirektor“ K 486
Konzert für Klavier und Orchester A-Dur K414 (K385p)

Edvard Grieg
Aus Holbergs Zeit. Suite op. 40 für Streichorchester

Zugabe:

Franz Schubert
Moment musical f-moll D 780/3

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