Der Pianist Igor Levit brilliert in Bremen als feinsinniger Romantiker und überragender Sinfonie-Interpret   

Igor Levit, Klavierabend  Die Glocke, Bremen, 4. September 2024

Musikfest Bremen: „Klavierabend“

Johann Sebastian Bach  Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll BWV 903
Johannes Brahms 6 Klavierstücke op. 118
Ludwig van Beethoven  Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92 (Bearbeitung für Klavier von Franz Liszt)
Igor Levit  Klavier

Konzerthaus Die Glocke, Großer Saal, 4. September 2024

von Dr. Gerd Klingeberg

„Klavierabend“. Lapidarer hätte die Konzertankündigung kaum ausfallen können. Beim Blick aufs Programm dann eher ungläubiges Staunen, dass darin auch Beethovens 7. Sinfonie aufgeführt ist. Wenn es kein Druckfehler ist, dann mutet es doch einigermaßen schräg an. Nun ja, bei einem Interpreten Igor Levit darf man wohl mit mancherlei Überraschungen rechnen. Doch der Reihe nach. Vorneweg hat er Bachs „Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll“ gesetzt. Und damit die Messlatte gleich schon auf ungeahnte Höhen gelegt. Mit resolutem Anschlag signalisiert Levit gleich eingangs eindeutig, dass er vor den extremen spieltechnischen Anforderungen des selbst im großen Bach’schen Œuvre nahezu beispielslosen Werks nicht zurückschreckt. Im stringenten Vorandrängen bilden die endlosen Läufe und Arpeggien ein gleichermaßen faszinierendes wie verwirrendes Geflecht aus zahllosen, schillernd ineinanderfließenden Harmonien. Kurze Vorhalte und Verzögerungen intensivieren die ohnehin hohe Grundspannung in Levits kontrollierter, analytisch bis ins Detail auslotender Darbietung, die indes auch das expressiv Schwärmerische der Komposition nicht außer Acht lässt.

Die Fuge geht Levit zunächst dezent an, ist stets auf größtmögliche Transparenz bedacht. Gewaltige Wellen türmen sich auf, fallen ab, rollen unablässig und schier ungebremst weiter in einem forcierten Tempo. Derart turbulent hätte Bach sein eigenes Werk, selbst wenn er es gewollt hätte, kaum spielen können: Die damalige Anschlagsmechanik  gab es schlichtweg nicht her. Erst der fast schon banal schlichte Schlussakkord lässt wieder durchatmen.

Die „6 Klavierstücke“ von Brahms eröffnen romantische Sphären. Dabei stellt Levit in seiner gefühlvoll angelegten Interpretation mal den ruppigen, unwirschen, aufbegehrenden Brahms mit wuchtigem Tastendonner heraus, um kurz darauf den nachdenklichen Melancholiker, den Träumer, den am Ende resignierenden, fast schon der Welt abhanden gekommenen Komponisten mit weichem Pianissimo-Anschlag zu skizzieren. Herausragend schön, wenngleich melodisch eher schlicht angelegt, gerät das Intermezzo A-Dur, ein grandios vorgetragenes Kleinod romantisch-gefühlvoller Klaviermusik.

Dass irgendwann – neben störend lautem Gehuste oder allzu voreiligen Claqueuren – dabei in einer vorderen Reihe ein Handy penetrant zu läuten beginnt, schließlich der Besitzer polternd aufsteht und aus der Tür stürmt, ist ein Sakrileg, ein absolutes No-Go, durch das sich Levit glücklicherweise nicht aus dem Konzept bringen lässt.

Nach der Pause ist tatsächlich Beethovens vollständige Sinfonie Nr. 7 dran. Die nötige Vorarbeit dafür hat Franz Liszt mit seiner Klavierbearbeitung geleistet. Beim Interpreten ist, neben superber Spieltechnik, vor allem auch ein gehöriges Maß an muskulärer und mentaler Kondition erforderlich. Mit beidem kann Levit problemlos dienen. Dass er diesmal die Partitur benutzt, ist gewiss auch ein Hinweis auf den enormen Schwierigkeitsgrad der Transkription. Der Versuch, die Klangdichte und Farbpalette eines Orchesters nachzuahmen, stellt sich indes bereits bei den wuchtigen Anfangsakkorden als nicht wirklich durchführbar heraus; selbst der beste Konzertflügel gibt dergleichen nicht her. Levit setzt auf starke Kontraste und scharfe Konturen, reizt dynamische Möglichkeiten exzessiv aus, wechselt gekonnt zwischen lieblich-intimem Vortrag und Tastentigergedröhn. Und ja, er wird dem sinfonischen Gehalt überraschend gut gerecht.

Eine gewisse Ambivalenz stellt sich beim Hörer dennoch ein. Ist es – wo heutzutage, anders als zu Liszts Zeiten, die sattsam bekannte orchestrale Fassung praktisch jederzeit, wenn nicht live, dann zumindest als Konserve zur Verfügung steht – nicht anachronistisch, ein derart großes sinfonisches Werk in Klavierversion zu präsentieren?

Letztlich wird die Frage in den Hintergrund gedrängt vom fulminanten, im gestreckten Galopp alles überrennenden finalen Allegro-, eher noch: Presto-Sturmlauf des letzten Satzes, diesem atemberaubenden Koloss von Kehraus, bei dem es scheint, als wolle Levit mit seinem ungemein energischen Anschlag die gesamte Tastatur, gegebenenfalls auch gleich den kompletten Steinway-Flügel atomisieren. Was für eine Performance! Keine Sinfonie „light“, sondern eine mit allem, was pianistisch nur irgend machbar ist. Mehr geht nicht.

Der Saal tobt bei ekstatischem Beifall und Standing Ovations. Nachdem er sich kurz über klingelnde Handys mokiert hat, lässt sich der gefeierte Levit noch zu einer Zugabe bewegen. Und wenn er das Beethoven-Finale wie mit dickem Quast gemalt hat, dann ist er jetzt, bei Chopins Nocturne as-Moll op.post. mit der berückenden Bezeichnung „Lento con gran espressione“ wie mit einem superfeinen Dachshaarpinsel dabei. Einen unvergleichlicheren, traumhafteren Schluss hätte man sich für ein schlicht als „Klavierabend“ bezeichnetes Konzert schwerlich ausdenken können.

Dr. Gerd Klingeberg, 5. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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