10 Fragen an die Opernregisseurin Tatjana Gürbaca: "Wenn ich intensiv an Opern arbeite, verordne ich mir selbst eine Ausgangssperre"

Interview: 10 Fragen an die Opernregisseurin Tatjana Gürbaca  klassik-begeistert.de

Die gebürtige Berlinerin Tatjana Gürbaca studierte in ihrer Heimatstadt Regie an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“. Ergänzt wurde ihre Ausbildung durch Meisterkurse bei Ruth Berghaus und Peter Konwitschny. In den Jahren 1998 bis 2001 war sie als Regieassistentin an der Oper Graz tätig. Sie war 2000 Preisträgerin beim Grazer Regiewettbewerb „Ring Award“ und debütierte 2001 an der Grazer Oper mit Puccinis Turandot. Seither ist Tatjana Gürbaca als freischaffende Opernregisseurin tätig. Ihre Produktionen führten sie an große Opernhäuser in Deutschland und Europa, unter anderem in Leipzig, Köln, Staatsoper Unter den Linden und Deutsche Oper Berlin, das Aalto Theater Essen, die Deutsche Oper am Rhein, das Theater Bremen, die Opern in Strasbourg, Oslo, Novosibirsk und Bogota, das Theater an der Wien. Beim Luzern-Festival 2010 erarbeitete sie gemeinsam mit Claudio Abbado eine semiszenische Aufführung von Beethovens Fidelio. Sie war von 2011 bis 2014 Operndirektorin am Staatstheater Mainz. Seit 2012 ist sie regelmäßig mit Produktionen am Opernhaus Zürich zu erleben. Für ihre Inszenierung des Parsifal an der Vlaamse Opera in Antwerpen und Gent wurde sie 2013 von Kritikern der Zeitschrift Opernwelt zur Regisseurin des Jahres gewählt und 2014 in London mit dem International Opera Award für die „Beste Opernproduktion“ ausgezeichnet.

Tatjana Gürbaca befand sich mit dem Ensemble der English National Opera in London kurz vor der Premiere von Dvoraks Rusalka, als die Produktion wegen der Corona-Pandemie kurzfristig abgebrochen werden musste. Sie ergatterte in letzter Minute einen überteuerten Flug in ihre Heimat Berlin, und verbringt dort ihre erzwungene Auszeit mit ihrem Ehemann und den beiden Katzen.

Interview: Dr. Petra Spelzhaus
Fotos: (c) Herwig Prammer

klassik-begeistert.de: Was haben Sie vor einem Jahr getan, und wie sieht Ihr Alltag heute aus?

Tatjana Gürbaca: Vor ziemlich genau einem Jahr befand ich mich in Zürich in der Produktion von Le Grand Macabre von Ligeti. Es grassierte ebenfalls eine schlimme Grippewelle und legte alles lahm. Viele Darsteller waren betroffen. Zeitweilig musste ich auf der Bühne aushelfen, während eine Sängerin vom Rand sang. Erst bei der allerletzten Aufführung waren im Ensemble alle wieder gesund. Nach dem jähen Ende der Rusalka an der English National Opera bereite ich im häuslichen Umfeld meine Opern vor. Während mein Mann als Kunstlehrer Online-Unterricht erteilt, vergrabe ich mich wie ein Maulwurf mit meinen Stücken. Eine Ausgangssperre ist für mich keine Seltenheit. Wenn ich intensiv an Opern arbeite, verordne ich sie mir selbst.

Nennen Sie drei Schlagworte, wenn Sie das Wort Corona hören…

-Unterbrechung der Atmung: Atmung ist Rhythmus

-Stillstand und Stille

-Zukunft mit Fragezeichen: Wobei das Fragezeichen nicht nur die persönliche Situation betrifft, sondern auch die Frage, ob uns eine Seuche wie Covid-19 auch nach weiteren Virenmutationen erneut in dieser Härte treffen kann.

Welches sind die einschneidendsten Veränderungen seit Ausbruch der Corona-Pandemie? Können Sie ihr auch etwas Positives abgewinnen?

Für Opernhäuser ist eine ganz schwierige Phase angebrochen. Es fallen aktuell nicht nur Aufführungen von fertigen oder halbfertigen Produktionen aus, sondern auch die Vorbereitungen für neue. So müssen unter anderem Kostüme oder Bühnenbilder hergestellt werden. Auch das stagniert. Teilweise wird schon überlegt, Produktionen von 2023 auf 2024 zu verlegen. Es wird viel mehr umgekrempelt, als man von außen sieht. Auf einer anderen Ebene ist eine Stille entstanden, eine Langeweile, ein Vakuum, das auch positive Seiten hat. Es kann uns auch mal ganz guttun, aus dem kapitalistischen Hamsterrad auszusteigen, wo ein jeder nach seiner Produktivität, seinem Output beurteilt wird. Vielleicht muss man die Pause auch einmal zulassen.

Denken passiert so automatisch wie das Atmen. Das Vakuum gibt Gelegenheit, den eigenen Gedanken zuzuhören und ihnen nachzugehen. Es entwickelt sich eine neue Kraft, die mehr in die Tiefe geht. Ich habe die Gelegenheit genutzt und viel über Seuchen recherchiert (unter anderem  Pest, Cholera oder Spanische Grippe). Es hat sich gezeigt, dass große Werke durch das Vakuum der Pandemien entstanden sind, so zum Beispiel Decamerone von Giovanni Boccaccio, Newton hat seine Gesetze der Schwerkraft formuliert, Shakespeares King Lear geschrieben, James Joyce Ulisses. Wenn die Welt stillsteht und man plötzlich auf sich selber zurückgeworfen wird, sich angesichts der Krankheit auch Gedanken um die eigene Endlichkeit machen muss und über das große Ganze nachdenkt, von dem man selber Teil ist, ist das der beste Ausgangspunkt, um Kunst zu machen.

(c) Herwig Prammer

Womit verdienen Sie sich normalerweise ihre Brötchen? Wie ist die Situation nach Aussetzen sämtlicher kultureller Veranstaltungen?

Meine Brötchen verdiene ich als Regisseurin. Glücklicherweise hat die English National Opera die ausgefallene Produktion von Rusalka voll ausgezahlt.

Durch die Corona-Krise sind mehrere Musikmagazine an mich herangetreten. Für diese schreibe ich nun Texte. Das macht Spaß und ist eine schöne Abwechslung. Tragischerweise brechen vielen Künstlern sämtliche Einnahmen weg. Entgegenwirken kann man als Zuschauer dadurch, dass man gekaufte und verfallene Karten nicht zurückgibt. Ich habe die Hoffnung, dass Intendanten clever genug sind, halbfertige Produktionen aufzukaufen, dass diese in Zukunft noch gezeigt werden können.

Wie gelingt es einem Künstler, ohne Publikum bei Laune zu bleiben?

Man sollte sich darüber klar sein, dass Zeiten der Entschleunigung gesund und wichtig sind. Sie geben die Gelegenheit, sich auf sich selbst zu besinnen, ohne Druck von Produktivität über den Tellerrand zu schauen und seinen Kosmos zu erweitern. Finanzielle Sorgen dürfen einen hierfür natürlich nicht erdrücken.

Eine Frage, die mich als Ärztin besonders interessiert: Mit welchem Musikwerk stimulieren Sie Ihr Immunsystem?

Selber Musik machen! Ich habe meine Chopin-Etüden herausgekramt. Das ist wie Yoga für die Finger: Bleiben die Hände locker, bleiben auch die Gedanken locker.

Momentan verbringen viele Musikliebhaber viel Zeit in ihren eigenen vier Wänden. Gibt es ein Buch, eine CD oder auch Streamingangebot, das Sie uns dringend empfehlen würden?

Lesen, lesen, lesen. Ich kann nur dringend empfehlen, sich die großen langen Romane von Dostojewski, Balzac oder passenderweise Proust „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ vorzunehmen. Ich höre auch gerne Gitarrenmusik oder Jazz. Musikhören ist für mich jedoch aktiv, also mit Arbeit verbunden. Von daher genieße ich gerne die Ruhe.

(c) operamrhein.de

Kommen wir zur ersten Frage zurück: Wo sehen Sie sich in einem Jahr?

Hoffentlich wieder bei der Arbeit, wie es vor einem Jahr gewesen ist.

Es gibt Zukunftsforscher, die nach überstandener Corona-Krise eine Verbesserung des Weltklimas – ökologisch wie sozial – prophezeien. Teilen Sie diese Einschätzung? Wie ist Ihre Vision?

Man kann nur hoffen, dass sich Dinge zum Positiven wenden. Ich bezweifle aber, dass eine Krise zu Veränderungen führt, meiner Erfahrung nach entstehen diese eher über einen längeren Zeitraum. Außerdem bedeuten Veränderungen nicht zwangsläufig Verbesserungen. Häufig ist auch das erst langfristig beurteilbar wie in einem buddhistischen Märchen, in dem Dinge, die zunächst als Katastrophe imponieren, sich später als Glücksfall herausstellen und umgekehrt.

Schauen wir in die Glaskugel: Die Heilige Corona, auch Schutzpatronin gegen Seuchen, hat ein Einsehen mit uns und beendet die Pandemie. Alle Musikclubs, Theater und Opernhäuser öffnen wieder. Für Ihren ersten Auftritt haben Sie drei Wünsche frei: Wo, in welcher Produktion und mit wem teilen Sie die Bühne?

Mein Wunsch ist schlicht und einfach, dort weiterz machen, wo wir jetzt gestoppt wurden. Wir hatten eine so erfüllende Zeit bei der Vorbereitung von Rusalka in London! Das Team, die Sänger und die Mitarbeiter der ENO sind wahnsinnig tolle Menschen und Künstler. Mit ihnen gemeinsam möchte ich das Werk zur Aufführung bringen.

Interview: Dr. Petra Spelzhaus, 2. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Dr. Petra Spelzhaus, München

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