Die polnische Sopranistin Anna Lichorowicz ist Solistin an der Oper Breslau (Opera Wrocławska). 2007 absolvierte sie mit Auszeichung ihr Gesangsstudium der Musikhochschule in Krakau. Dort wurde sie 2018 zum Doktor der Kunst promoviert. Zu ihren Solo-Leistungen zählen über 400 Opernvorstellungen und rund 500 Konzertauftritte.
Anna Lichorowicz war die erste Preisträgerin des Gesangswettbewerbs am Festival Oper Oder-Spree. Für ihre künstlerischen Leistungen erhielt sie die Prometheus-Statuette – den Preis der polnischen Bühnen.
Sie war am Teatro alla Scala in Mailand als Cover von Anna Netrebko in der Oper „Giovanna d’Arco“ von Giuseppe Verdi unter der Leitung von Riccardo Chailly beteiligt. Ihre erste Premiere in Breslau war Richard Strauss‘ „Frau ohne Schatten“, in der sie die Titelrolle der Kaiserin als erste und bislang einzige polnische Interpretin dieser monumentalen Partie sang. Außerdem interpretierte sie Liu in Puccinis „Turandot“ sowie Cio-Cio San in „Madame Butterfly“ in der Inszenierung von Giancarlo del Monaco, wobei sie zusammen mit James Valenti auftrat. Zu ihren weiteren Rollen gehört die Fürstin Jaroslawna in „Fürst Igor“ von Borodin, Lady Macbeth, Tosca, Roxana in „König Roger“ von Karol Szymanowski und Leonora in drei Opern: „Il trovatore“ und „Oberto, Conte di San Bonifacio“ von Verdi sowie „Fidelio“ von Beethoven.
Anna Lichorowicz nahm an zwei Open-Air-Megavorstellungen der Breslauer Oper teil: als Senta in Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ (die Vorstellung wurde auf dem Wasser aufgeführt) und als Abigaille in Verdis „Nabucco“. 2018 debütierte sie als Titelheldin in „Halka“ von Stanisław Moniuszko.
Anna Lichorowicz gastierte bei namhaften Opernfestspielen wie dem Sommerfestival in Xanten, dem Oper Oder-Spree Festival, dem Festival de Wiltz in Luxemburg, I Giorni Della Lirica in Italien und dem Saaremaa Opera Festival in Estland. Sie gab auch Konzerte in den USA und Kanada.
Interview: Jolanta Lada-Zielke
Fotos: Marek Spisak, Marek Grotowski, Małgorzata Chrastek (c)
klassik-begeistert.de: Was hast Du vor einem Jahr getan und wie sieht heute dein Alltag aus?
Anna Lichorowicz: Vor einem Jahr habe ich März und April in Polen verbracht und kleine Kammerkonzerte gegeben. Ich hatte eine Reihe von Aufführungen in der Oper Breslau. Normalerweise ist der Frühling eine reichhaltige Zeit für Opernsänger, voller Proben und Vorstellungen. Wir erfüllen uns beruflich und verdienen dabei Geld. Dieses Jahr ist es offensichtlich anders. Wir sind abgeschnitten von unserer Arbeit und vom Publikum, für das wir existieren. Da wir jetzt viel Zeit haben, können wir uns mehr mit unseren Hobbys beschäftigen. Ich arbeite gerne im Garten bei meinem Haus am Waldesrand; ich pflanze, säe, füttere die Waldtiere und trainiere meinen Hund. Ich gehe auf andere Lebewesen zu, mit denen der Kontakt nicht verboten ist.Ich kehrte auch zu meinem literarischen Schaffen zurück, das ich jahrelang wegen meiner beruflichen Laufbahn vernachlässigt hatte. Prosa und Gedichte sind nicht mehr so leicht zu schreiben wie in meiner Jugend, aber jetzt habe ich die Möglichkeit das zu üben. Also langweile ich mich nicht.
Kannst du ein paar Schlagworte nennen, wenn Du das Wort „Corona“ hörst?
1) Die Krone des Baumes … oder die Krone der Berge , weil ich die Natur liebe.
2) Königliche Krone.
3) Tschechische Krone (die Währung) 🙂
Was sind die einschneidendsten Veränderungen seit Ausbruch der Corona-Pandemie? Könntest Du ihr auch etwas Positives abgewinnen?
Abgesehen von allgemeinen Veränderungen, die uns alle betreffen, hat die Pandemie in meinem privaten und beruflichen Leben keine Veränderungen vorgenommen. Das Berufsverbot, der Mangel an Bewegungsfreiheit, das Abschneiden von sozialen Kontakten, die Entfremdung – all dies lässt mich die wachsende Wut und Rebellion meiner freien künstlerischen Seele spüren. Gleichzeitig erfordert die Situation von uns Anpassung sowie die Suche nach positiven Seiten. Es ist definitiv eine Gelegenheit, sich von täglichen Proben oder Reisen, von beruflichem Stress und von unangenehmen Menschen, mit denen wir oft arbeiten müssen, auszuruhen. Wir können familiäre Bindungen stärken, unsere Hobbys ausüben, mehr schlafen, Bücher lesen, unsere Lieblingsmusik hören… Jede Situation kann Vor- und Nachteile haben, abhängig von unserer Einstellung.
Womit verdienst du Deine Brötchen? Wie ist die Situation nach der Absage sämtlicher kultureller Veranstaltungen?
Meine erste Einnahmequelle ist die feste Stelle als Solistin an der Breslauer Oper. Ich habe auch Einnahmen aus Gastauftritten. Im Moment sind mir einige wichtige Geldspritzen abhandengekommen, weil meine März-Konzertreihe in Japan sowie mehrere Auftritte in Polen und alle Opernvorstellungen abgesagt wurden. Also habe ich alle Gelder verloren, die ich sparen, investieren oder für Vergnügen ausgeben konnte. Meine existenzielle Grundsituation ist jedoch nicht bedroht, da ich als Solistin des Staatstheaters ein monatliches Einkommen in Form eines Grundgehalts habe.
Die Bundesregierung Deutschlands unterstützt Künstler, indem sie sie in ein Soforthilfeprogramm für Freiberufler sowie kleine und mittlere Unternehmen einbezieht. Können Musiker in Polen auf ähnliche Hilfe zählen?
Ja, Musiker in Polen, die als Ein-Mann-Unternehmen oder Freiberufler beschäftigt sind, können auf lukrative staatliche Subventionen zählen. Leider gilt die Nothilfe nicht für Solisten, die im Rahmen eines unbefristeten Arbeitsvertrags beschäftigt sind, da unsere Finanzierungskontinuität nicht unterbrochen wurde.
Wie gelingt es einem Musiker ohne Publikum bei Laune zu bleiben?
Ich bewahre die Gelassenheit dank der Arbeit in meinem Garten und Obstgarten, dank der Waldtiere, die mich besuchen, dank der Bücher, die ich endlich in großen Mengen lesen kann, aber auch dank meiner eigenen literarischen Kreativität und dank der Musik, die ich höre, und der Möglichkeit, öfter mit geliebten Menschen zusammen zu sein. Ich entwickle mich auch geistlich, weil ich Zeit fürs Meditieren, Gebete und philosophische Überlegungen habe.
Schließlich mache ich das Wichtigste: Ich lerne meine geliebten Opernrollen, und zwar nicht diejenigen, die mir ein Agent oder der Direktor des Theaters aufzwingen, sondern diejenigen, die am tiefsten in meinem Herzen liegen und die ich noch nicht auf der Bühne gesungen habe. Dies sind Rollen aus Opern von Richard Strauss, vor allem die Salome, und Sopranpartien in den Werken des Meisters Richard Wagner.
Mit welchem Musikwerk stimulierst Du dein Immunsystem?
Es ist schwierig alle meine Lieblingsstücke zu benennen. Hauptsächlich mag ich den Stil der Werke von Richard Strauss und Wagner, Korngold, Berg, Puccini, aber auch Debussy, Chopin und Tschaikowsky. Ich liebe Programm- und Filmmusik von Wojciech Kilar, John Barry, Nigel Heß, Alan Silvestri, Hagood Hardy, Marco Frisin, John Debney, und Michel Legrand. Der Balsam für meine Seele sind jedoch die Melodie des morgendlichen Vogelgesangs auf den Wiesen, die Nachtklänge des Waldes und das Geräusch des Windes in den Kronen hoher Nadelbäume.
Es gibt Zukunftsforscher, die nach überstandener Corona-Krise eine Verbesserung des Weltklimas – ökologisch wie sozial – prophezeien. Teilst Du diese Einschätzung? Wie ist Deine Vision?
Ich stimme der Theorie dieser Wissenschaftler zu, weil ich dies während dieser schrecklichen Zeit der Prüfung hier und jetzt miterlebe. Die Menschen vermissen einander, die Sonne, das Grün, den Frühling, den Kontakt mit Gott. Sie sind weniger anspruchsvoll, sondern bescheidener und versöhnter geworden. Fremde Personen sprechen in Warteschlangen vor dem Laden miteinander. Bisher war ein solches Verhalten ein Relikt aus der Zeit unserer Eltern und Großeltern; es war nicht angebracht, Fremde ohne ersichtlichen Grund anzusprechen. Selbst am Telefon in Büros oder bei Notaufnahmen agiert man sympathischer als früher. Die Menschen scheinen verstanden zu haben, dass ihr Streben nach Mammon keinen tiefen Sinn hat, und dass unser mühsam aufgebautes Sicherheitsgefühl und unsere Existenz wie eine Herbstblume im Wind ist, zerbrechlich, vorübergehend und unsicher … „Der Wind nur drüber wehet, so ist es nimmer da“ (Bach-Motette „Singet dem Herrn ein neues Lied“ BWV 225). Die Leute wissen von anderen, die alleine sterben, und schätzen mehr ihre geliebten, oder sogar entfernten, bislang unbemerkten Mitmenschen…
Im Internet habe ich ein tolles Gedicht gefunden, das über unsere Situation sehr treffend erzählt. Lass mich den letzten Satz zitieren:
„Frühling? Wer hat ihn schon einmal bewundert?
Anscheinend hatte er so viel Licht und Grün…
Vielleicht hat uns jemand hinter einem gepanzerten Glas eingesperrt,
Dass wir Mitmenschen und diese Welt schätzen könnten?“
Wenn Du jetzt einen Wunsch betreffend Deines erstes Auftritts nach der Pandemie äußern könntest: Wo, in welcher Produktion und mit wem würdest Du die Bühne teilen?
Wenn ich schon von meinem neuen Start nach der Pandemie träumen dürfte, würde ich gerne die Titelrolle in Richard Strauss‘ „Salome“ oder eine andere Sopranpartie in einer seiner Opern singen. Ich träume auch davon, Sopranrollen in Richard Wagners Opern zu interpretieren, denn das ist die Musik meiner Seele!
Interview: Jolanta Lada-Zielke, 4. Mai 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at