Foto: Alice Meregaglia © Jörg Landsberg
Italienisches Temperament, französische Eleganz und deutsche Zuverlässigkeit – all das verbindet Alice Meregaglia in ihrem künstlerischen Schaffen. Sie studierte Klavierspielen am Konservatorium in Venedig sowie Musikwissenschaft und Korrepetition in Mailand. 2014 absolvierte sie ein Aufbaustudium im Fach Orchesterleitung in Straßburg, worauf ihre ersten eigenen Projekte als Dirigentin folgten: Rossinis „La cambiale di matrimonio“ und Mozarts „Don Giovanni“ im Rahmen der Ticino Musica sowie „Così fan tutte“ bei Nei Stëmmen in Luxemburg. Von 2012 bis 2015 war sie als Solorepetitorin an der Opéra national du Rhin tätig und erarbeitete Produktionen wie Brittens „Owen Wingrave“ und Cimarosas „Il matrimonio segreto“. Seit 2015/16 ist Alice Meregaglia am Theater Bremen engagiert – zunächst als Solorepetitorin und Assistentin der Chordirektion, seit der Spielzeit 2016/17 als Chordirektorin. Neben Chorkonzerten mit „Petite Messe solennelle“ und Faurés „Requiem” dirigierte sie Chabriers „Das Horoskop des Königs – L’Étoile“. 2021 leitete sie musikalisch Rossinis „L’Italiana in Algeri“ und Donizettis “L’elisir d’amore”. Als Chordirektorin arbeitete sie bei der Opéra national du Rhin und der Trondheim Opera, als Korrepetitorin und musikalische Assistentin bei den Bregenzer Festspielen. An der HfK Bremen hat sie Lehraufträge für Rezitativgestaltung und Singen in Italienisch inne.
Gespräch mit Alice Meregaglia, Dirigentin, Korrepetitorin, Leiterin des Bremer Opernchors und Pädagogin, Preisträgerin des Kurt-Hübner-Preis 2018.
von Jolanta Łada-Zielke
Liebe Alice, du bist eine vielseitige Musikerin. Wie hast Du deine Ausbildung gemacht?
Ich habe im Conservatorio Giuseppe Verdi in Mailand studiert. Dann habe ich nach Venedig gewechselt und am dortigen Konservatorium mein Klavierdiplom absolviert. Gleichzeitig studierte ich Musikwissenschaft an der Universität in Mailand. Später bin ich nach Mailand zurückgezogen und habe meine Spezialisierung – den Master als Korrepetitorin am Conservatorio Giuseppe Verdi gemacht. Danach habe ich das Orchesterdirigat im Rahmen des Aufbaustudiums in Straßburg erlernt. Im dortigen Opernstudio habe ich sowohl studiert als auch als Korrepetitorin der Sänger gearbeitet.
Wie bist Du nach Deutschland gekommen?
Mein Vertrag in Straßburg ist nach zwei Jahren ausgelaufen. Eine Verlängerung war nicht möglich, nach diesen zwei Jahren muss man den Platz für andere junge Menschen frei machen. Ich durfte aber noch ein Jahr länger als Assistentin eines Dirigenten in der Oper arbeiten. Es war ein gegenseitiger Austausch. Ich habe die Franzosen mit der italienischen Oper und Kultur vertraut gemacht, die ich im Studium noch besser kennengelernt hatte. Ich selbst habe die französische Kultur, die Sprache und das Repertoire der französischen Oper entdeckt. Dann dachte ich, dass mir noch der „deutsche“ Teil dazu fehlt. Ich wollte nämlich die Kultur und die Oper in diesem italienisch-französisch-deutschen Triangel kennenlernen. Deshalb bin ich nach Bremen gekommen, um meine Kenntnisse mit diesem „deutschen“ Teil zu bereichern.
Italien ist die Heimat von Belcanto. Findest Du, dass man in Deutschland anders singt?
Ich sage mal so: man sollte sich besser kennenlernen. Lass mich hier einen kulinarischen Vergleich heranziehen: Ich kann zum Beispiel nur in Deutschland eine Wurst mit Kartoffelsalat essen. In Italien schmeckt die Wurst anders. Oder: isst ein Deutscher in Italien einen Salat ohne Soße, dafür mit Oliven, frischen Tomaten und ein bisschen Salz, wird ihm zunächst der Salat so nicht schmecken. Mit der Zeit jedoch lernt er diesen Geschmack zu genießen, besonders den der Tomaten, die in der heißen südlichen Sonne gereift sind. Diese Erfahrung gehört einfach dazu, wenn man eine andere Kultur kennenlernen will. Die Zusammenarbeit mit Leuten aus verschiedenen Kulturkreisen ist immer eine Herausforderung. Wir können aber unser Wissen und unsere Erfahrungen austauschen und viel Spaß dabeihaben.
Wo siehst du die Unterschiede?
Die Artikulation der deutschen Sprache kommt von unten, in der italienischen Sprache von oben und von vorne. Deswegen ist ein Legato für Italiener etwas Natürliches.
Meine italienische Lehrerin sagte: „La lingua italiana è melodiosa e molto musicale“…
Genau so ist sie. Und unsere Intonation ist sehr hoch, hinter der Nase. Der deutsche Gesang kann aber auch sehr hoch und rund sein, obwohl die Deutschen tiefer sprechen. Ein Legato braucht jedenfalls Luft und keine explosiven Konsonanten. Am wichtigsten ist durch die Konsonanten zu singen. Beim Kennenlernen der lokalen Kultur ist mir aufgefallen, dass sich die Deutschen viel Mühe geben, wenn sie auf Italienisch singen. Sie können es gut schaffen, wenn sie einige Gewohnheiten entwickeln.
Anscheinend gehen die Italiener flexibler mit Tempi um?
Auf beiden Seiten gibt es Klischeedenken. Die Deutschen sagen, in Italien herrscht nur die Mafia, und dass die Italiener sich immer verspäten. Und meine Landsleute finden die Deutsche zu „steif“. Das Wort, das ich in Deutschland am häufigsten höre, ist „Stabilität“. Stabilität ist wichtig, wenn man zusammen spielt, oder die Zeit miteinander verbringt. Aber wenn wir nur „stabil“ zusammensingen, ohne zu musizieren, erfüllen wir unsere künstlerische Mission nicht. Es geht nicht darum, dass wir im Ensemble Anarchie haben, aber Stabilität, Struktur, Expression und Charakter sollen in perfekter Balance zusammenhängen. Meiner Meinung nach ist eine geregelte Flexibilität das goldene Mittel. Was ich an Deutschland sehr mag, sind die Regeln. Sie sind aber nur der Anfang, nicht das Ziel.
Wenn es um die Stereotypen geht, tauchen unter dem Begriff „italienische Oper“ automatisch zwei Namen auf: Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini, eventuell noch Gioacchino Rossini. Aber die italienische Oper ist mehr als das.
Aber natürlich. Ich mag sehr Gaetano Donizetti, zusammen mit Rossini sind die beiden meine Lieblingskomponisten. Mein Herz brennt für Verdi und Puccini, aber mit Rossini und Donizetti fühle ich mich wie zu Hause. Der Geist ihrer Musik, sowie ein gewisser Hauch von Ironie, den es in ihr gibt, sprechen mich am meisten an.
Ich führte einmal in Bayreuth ein Interview mit Kwangchul Youn und er erzählte, dass in Südkorea Verdi und Puccini häufiger als Wagner gespielt werden. Piotr Beczała wiederum hält „Lohengrin“ für die italienischste aller Opern Wagners, weil es dort viel Belcanto gibt. Findest Du das auch?
Ja, und ich meine, im „Der fliegende Holländer“ gibt es auch viel Belcanto.
Ich bewundere Dein Talent für Fremdsprachen. Bei der Vorbereitung des Carl-Philipp-Emanuel- Bach- Chor Hamburgs für das Konzert mit Janáčeks „Das schlaue Füchslein“ brachtest Du den Sängerinnen die tschechische Aussprache bei.
Wir führten „Das schlaue Füchslein“ auch in Bremen auf. Unsere Regieassistentin Vendula Nováková ist tschechische Muttersprachlerin und erklärte uns die Aussprache sehr genau. Sie bereitete auch die Untertitel für das Konzert in der Elbphilharmonie vor. Als nächstes wird sie mit uns „Jenůfa“ einstudieren. Wenn es um mich geht, fühle ich mich nicht besonders sprachlich begabt. Die Sprache, die mein Herz wirklich berührt, ist Französisch. Ich bin wirklich fasziniert davon, sodass ich Tag und Nacht französische Gedichte lesen kann. Was ich in der deutschen Sprache mag, ist ihre Struktur. In ihr suche ich nach der Musikalität, die mir entspricht. Seit fünf Jahren lebe ich in Deutschland, aber ich habe noch nicht herausgefunden, wo meine Begeisterung von der Musikalität dieser Sprache liegt. Dafür brauche ich mehr Zeit.
Was ist Dein bisheriger größter Erfolg? Der Kurt-Hübner-Theaterpreis im Jahre 2018?
Ja, mein 40-köpfiger Opernchor und ich, wir haben diesen Preis nach dem ersten Jahr unserer Zusammenarbeit gewonnen. Das war ein wunderbares Gefühl, weil wir alle hart gearbeitet und eine sehr gute Leistung erbracht haben. Das Ensemble ist international. Neben deutschen Sängern habe ich Leute aus Südkorea, Japan, Schweden, Georgien, Italien, Bulgarien, Russland, Irland, Spanien und Armenien. Als Team gehen wir ehrlich miteinander um. Ich kann sagen, wir schauen in dieselbe Richtung. Natürlich erleben wir auch schwierige Momente. Ich habe kein Mitleid mit meinen Sängern, aber sie haben auch kein Mitleid mit mir. Wenn etwas nicht stimmt, sprechen wir darüber und tun nicht so, als wäre alles in Ordnung. Manchmal bin ich echt hart, aber wenn ich etwas falsch mache, reagieren die Sänger sofort. Dafür bin ich ihnen dankbar, weil mir solche konstruktive Kritik viel bringt. Als wir den Preis gewonnen haben, war ich unglaublich stolz auf meine Sänger.
Einer der schwierigsten Momente war für Euch die Pandemie 2020?
Ja. Am Anfang des ersten Lockdowns konnten wir uns ein bisschen ausruhen, weil wir vorher eine sehr intensive Zeit hatten. Aber nach einem Monat vermissten wir schon unsere Arbeit. Musik ist uns allen sehr wichtig, also wollten wir so schnell wie möglich wieder auf die Bühne. Für einige Chorsänger war dies besonders schwierig. Einige von ihnen sind über dreißig, die anderen über sechzig. Wir müssen alle regelmäßig üben, um fit zu bleiben. Ohne dieses Training ermüden wir schnell. Also hatte ich Angst, dass ihre Körper und ihre Stimmen schwächer werden. Aber Ende August dieses Jahres haben wir mit voller Energie neu gestartet und holten alles nach. Jetzt haben wir innerhalb von drei Monaten „Das schlaue Füchslein“, John-Lennon-Lieder-Abend „Imagine“ und „Die Zauberflöte“ aufgeführt. Die Premiere von „Die Zauberflöte“ fand am 27. November statt. Wir hatten auch ein Chorkonzert auf dem Goetheplatz mit den Stücken aus den veristischen Opern. Unsere nächsten Projekte sind Verdis „Falstaff“ und „L’elisir d’amore“ von Donizetti, die ich selbst dirigieren werde.
Vermisst Du nicht nur deine Heimat, sondern auch die Wärme des italienischen Klimas und die Herzen Deiner Landsleute?
Ich vermisse meine Familie und meine italienischen Freunde, mit denen ich studierte, und meinen dortigen Sport- und Tai-Chi-Verein. Leider besuche ich sie nicht so häufig, wie ich es wollte, weil ich sehr beschäftigt bin. Neben der Chorleitung unterrichte ich Rezitativgestaltung und Singen in Italienisch an der Hochschule für Künste in Bremen. Ich mag meine Studenten sehr. Weihnachten verbringe ich in Italien. Im Sommer komme ich auch dorthin, wenn ich gerade kein Projekt mitmache. In den letzten zwei Jahren engagierte ich mich bei den Bregenzer Festspielen, war also selten zu Hause. Das soll so sein – wenn man der Stimme der Berufung, der Stimme seiner Leidenschaft folgt, muss man in die Welt hinaus. Bisher habe ich keine von meinen Freundschaften wegen der Entfernung verloren. Im Gegenteil, diese Beziehungen sind noch stärker geworden.
Danke für das Gespräch!
Jolanta Łada-Zielke, 6. Dezember 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Interview, Anna Handler, „Musik mache ich mit Menschen und für Menschen“, Teil 1