Atilla Aldemir: "Ich spüre Bachs Anwesenheit unmittelbar"

Interview – Atilla Aldemir: „Ich spüre Bachs Anwesenheit unmittelbar“

Foto: Atilla Aldemir, der 2011 mit dem Donizetti-Preis als „Bester Interpret der Türkei“ ausgezeichnet wurde © Marco Borggreve

Istanbul, Wien, Berlin und nun Leipzig. Das sind nur einige der Stationen des vielseitigen Musikers Atilla Aldemir, der sowohl das Spiel auf der Geige als auch auf der Bratsche beherrscht. Die Geige allerdings, die stellt der gebürtige Türke in letzter Zeit immer öfters ins Eck. Seit 2017 ist Aldemir Solo-Bratschist beim MDR-Sinfonieorchester. Als Solist hat er Ende des letzten Jahres auch Bachs Sonaten und Partiten (BWV 1001 – 1006) eingespielt. Natürlich als Arrangement auf der Bratsche – und nicht wie üblich auf der Geige. Damit geht Atilla Aldemir neue Wege. Weshalb, das erzählt er im Gespräch mit Klassik-begeistert.

von Jürgen Pathy

Klassik-begeistert: Herr Aldemir, Sie haben Ende des letzten Jahres die Sonaten und Partiten BWV 1001 – 1006 von Johann Sebastian Bach eingespielt. Jedoch nicht auf der Geige, sondern als Arrangement auf der Bratsche (Viola). Weshalb? 

Atilla Aldemir: Seit ich die klanglichen Möglichkeiten der Viola für mich entdeckt habe, erscheint mir eine Übertragung dieses Bach’schen Violinwerks besonders faszinierend. Außerdem kann ich mit dem tieferen Instrument die kontrapunktischen Elemente in besonderem Maße erlebbar machen.

Johann Sebastian Bach liebte die Bratsche. Sein ältester Sohn, Carl Philipp Emanuel Bach, berichtet, dass Bach als der größte Kenner und Beurteiler der Harmonie im Orchester am liebsten die Bratsche spielte. Laut seines Nachlass-Verzeichnisses besaß er am Ende seines Lebens u.a. drei Bratschen.

Klassik-begeistert: Seit wann beschäftigen Sie sich bereits mit diesen Werken? 

Atilla Aldemir: Als Geiger habe ich mich schon seit meiner Jugend mit dieser wunderbaren Musik viel befasst. Bachs Sei Solo gehören nämlich zweifellos zu den wertvollsten und erhabensten Schöpfungen der Musikgeschichte. Die Beschäftigung mit dem Zyklus ist per se aufwendig. Dies hängt mit dem musikalischen Gehalt und dem quantitativen Umfang des Notenmaterials zusammen, die jeden Geiger bei der Interpretation der Sonaten und Partiten vor besondere Herausforderungen stellen.

Klassik-begeistert: Die Aufnahmen entstanden nicht irgendwo, sondern in der St. Agnus Kirche von Köthen. Weshalb haben Sie diesen Ort gewählt?

Atilla Aldemir: Seit ich in Deutschland lebe, und besonders seitdem mich meine musikalische Tätigkeit nach Leipzig geführt hat, ist die Anwesenheit des Bach’schen Geistes und seiner Musik unmittelbar spürbar – ich atme quasi seine Luft. Dass ich die Gelegenheit hatte, in der Köthener St. Agnus Kirche die Aufnahme zu realisieren, hat mich mit großem Glück erfüllt und war für mich ein besonderer Ansporn. Denn hier sind diese Werke entstanden. 1720, also vor ziemlich genau 300 Jahren, hat Bach hier die Reinschrift der Sonaten und Partiten für Violine solo angefertigt. Damals war Bach als Kapellmeister in Köthen tätig.

Klassik-begeistert: Dann muss diese Kirche für jeden Musiker, der diese Werke spielt, ein unglaublicher Ort sein. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie diese Kirche betreten haben?

Als ich das erste Mal die Kirche betreten habe, habe ich beim Gedanken Gänsehaut bekommen, dass Bach jeden Sonntag hier im Gottesdienst mitgesungen und seine Füße auf dieselben Steine gesetzt hat. Ich habe es als unglaubliches Privileg empfunden, seinen Namenszug von eigener Hand im Kirchenregister sehen zu können.

Klassik-begeistert: Gibt es eine Partita oder Sonate, die Sie besonders mögen? Oder einen Satz, eine bestimmte Stelle? Wenn ja, weshalb?

Atilla Aldemir: Die Allemande aus der h-moll Partita BWV 1002 sowie das Andante aus der Sonate No. 2 in a-moll BWV 1003 liebe ich besonders. Bei beiden Sätzen spüre ich beim Spielen Hoffnung und die Vergänglichkeit.

Klassik-begeistert: Die Aufnahmen entstanden auf einer Bratsche von Pellegrino de Micheli (1560). Üblicherweise spielen Sie auf einem neueren Instrument. Weshalb haben Sie für diese Aufnahme dieses spezielle Instrument gewählt? 

Atilla Aldemir: Bei der Wahl hatte ich keine Zweifel. Die Viola Pellegrino de Micheli aus dem Jahre 1560 hat wunderbare Klangeigenschaften, denen ich bedingungslos vertraute. Außerdem inspirierte mich die Vorstellung sehr, dass das Instrument zu Bachs Lebzeiten bereits existierte, und er es theoretisch auch hätte hören können.

Die Wahl des Bogens habe ich mir nicht leicht gemacht. Sowohl mit modernen als auch mit barocken Bögen habe ich experimentiert. Letztendlich habe ich mich für den Barockbogen entschieden, der mit seiner Leichtigkeit meiner Vorstellung des lebendigen und virtuosen Barockstils am ehesten entsprach.

Foto: Atilla Aldemir, der 2011 mit dem Donizetti-Preis als „Bester Interpret der Türkei“ ausgezeichnet wurde © Marco Borggreve

Klassik-begeistert: Abgesehen von der technischen Komponente, worin liegt die Raffinesse oder die Kunst Bach „gut“ zu spielen?

Atilla Aldemir: Die Kunst liegt darin, die vertikalen und horizontalen Strukturen der Musik gleichermaßen zum Klingen zu bringen.

Klassik-begeistert: Sie spielen sowohl Geige als auch Bratsche. Wie schwer ist es, zwischen diesen beiden Instrumenten zu wechseln? 

Atilla Aldemir: Die Aufstellung der linken Hand ist für die Bratsche eine andere als für die Geige. Wenn ich ein Stück auf einem Instrument einstudiert habe, kann ich es nicht automatisch auf dem anderen Instrument spielen.

Klassik-begeistert: Weshalb haben Sie sich letztendlich für die Bratsche entschieden?

Atilla Aldemir: Die Bratsche ist für mich das Instrument, das entspannender wirkt. Sie gibt der Bach’schen Musik mehr Raum.

Klassik-begeistert: Können Sie für Laien verständlich erklären: Worin liegt der Unterschied zwischen einer Geige und einer Bratsche?

Atilla Aldemir: Die Bratsche ist größer und um eine Quinte tiefer gestimmt als die Geige.

Klassik-begeistert: Sie sind als Solist tätig, spielen aber auch im MDR-Sinfonieorchester. Worin liegt der Reiz in einem Orchester zu spielen? Worin wiederum als Solist? 

Atilla Aldemir: Das Orchesterrepertoire ist riesig. Dagegen sind die Solokonzerte mit Orchesterbegleitung begrenzt. Was eine Mahler-Sinfonie in mir an Emotionen auslöst, kann ich in Worten nicht beschreiben. Ich fühle mich dort als Teil des gesamten Organismus. Wiederum, wenn ich als Solist mit dem Orchester auftrete oder überhaupt ein Solostück spiele, zeichne ich sozusagen mit jeder Note meine eigene Signatur.

Klassik-begeistert: Lassen Sie uns Corona kurz ansprechen. Wie sehen Sie die aktuelle Situation? Hat sie nur Nachteile oder kann man ihr vielleicht etwas Positives abgewinnen?

Atilla Aldemir: Durch Corona haben wir gelernt, dass wir alle miteinander verbunden, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich sind. Es ist eine Prüfung für uns alle.

Klassik-begeistert: Angenommen es erscheint eine gute Fee. Diese erfüllt Ihnen drei Wünsche. Welche wären das?

Atilla Aldemir: An dieser Stelle möchte ich keine Klischees bedienen. Aber was ich mir wünschen würde, wäre insgesamt ein besserer Umgang mit mehr Respekt und Liebe füreinander.

Klassik-begeistert: Herr Aldemir, herzlichen Dank für das Gespräch.

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