Fotos: Ministerium für Kultur und Tourismus der Republik Türkei
Frieder Bernius gehört zu den bekanntesten Chorleitern Deutschlands. Seine Arbeit gilt als Referenz, an dem sich andere Chöre messen lassen müssen. Der typische, homogene Bernius-Klang ist berühmt. Bereits mit 20 gründete er den Kammerchor Stuttgart, den er bis heute leitet, daneben ist er als Gastdirigent und Dozent auf der ganzen Welt gefragt. Wir treffen Frieder Bernius in Istanbul. Zur Eröffnung des neuen Atatürk Kulturzentrums am Taksim-Platz dirigiert er den türkischen Amateur-Chor Resonanz des türkischen Chorleiters Dr. Burak Onur Erdem (das Interview mit ihm finden Sie hier). Auf dem Programm steht für die Türkei eher ungewöhnliche Musik: barocke geistliche Lieder. Die Besprechung des Konzertes finden Sie hier.
von Barbara Hauter
Barbara Hauter: Wir haben in Deutschland gerade davongaloppierende Inzidenzen. Wie erging es Ihnen unter Corona-Bedingungen als Gastdirignet hier in Istanbul mit einem Chor zu proben?
Frieder Bernius: In Istanbul sind die Zahlen ja nicht so hoch gegangen und deswegen spürt man nicht so viel Hysterie wie bei uns. Ich persönlich schütze mich, so gut ich kann, da ich die Mentalität der Leute nicht einschätzen kann. Ich bin zweimal geimpft und werde mich ein drittes Mal impfen lassen, aber ich lasse mich nicht verrückt machen von der Situation. Die Abstandsregeln wurden bei den Proben strikt eingehalten. Wir haben genau 1,5 Meter Abstand gehalten und mit Maske gearbeitet. In den Proben wurde mit Maske gesungen und daraus entstand eines der Probleme: Im Konzert wurden noch größere Abstände eingenommen und gleichzeitig wurden die Masken abgesetzt. Das sind komplett andere Bedingungen. Der Unterschied zum Klang mit und ohne Maske ist groß. Interessanterweise war es für mich mit Masken in den Proben die Normalsituation. Ich habe die Sängerinnen und Sänger nie gehört, wie sie ohne Maske singen. Und dann war das für mich eine Überraschung, als sie ohne Maske dastanden. Da muss man dann locker bleiben.
Barbara Hauter: Sie arbeiten ja oft mit fremden Chören. Was hat Sie bei dem türkischen Chor am meisten überrascht.
Frieder Bernius: Die Situation war schon sehr besonders, ich arbeite ganz besonders selten mit Amateuren. Gastdirigent bin ich sonst nur bei professionellen Chören. Das ist ein gesangstechnischer Unterschied. Qualitätsunterschied kann man nicht unbedingt sagen. In Amateurchören – ich sage bewusst nicht Laienchöre – sind öfter Sängerinnen und Sänger, die auf neue Vorstellungen eingehen. Professionelle Chöre sagen eher, wir sind wir, wir wissen, wie es geht, die sind an Gastdirigenten gewöhnt und da oft nicht so engagiert. Gesangstechnisch haben wir uns vorgerobbt. Aber ich wusste ja, was mich erwartet.
Barbara Hauter: Was waren denn die besonderen Herausforderungen? Die deutsche Aussprache?
Frieder Bernius: Selbst, wenn ein deutschsprachiges Ensemble deutsche Texte singt, gibt es Probleme. In Deutschland existieren viele Dialekte und da werden die Vokale völlig unterschiedlich ausgesprochen. Man sagt, dass im Hannoverschen Raum das beste Hochdeutsch gesprochen wird. Wenn ich eine Probe mache, frage ich immer, wer aus Hannover kommt, derjenige soll den Text dann vorsprechen. Aber natürlich muss ich als Dirigent eine genaue Vorstellung haben davon, wie Sprache gesprochen und wie sie gesungen wird. Ich habe ein System entwickelt. Ich schreibe allen Sängern in die Noten, wo zum Beispiel ein offenes oder geschlossenes E oder ein stummer Vokal, ein sogenannter Schwa-Vokal stehen. Das ist für mich die Voraussetzung dafür, dass ein Klang homogen ist, indem man die Klangfarbe der Vokale beachtet. E ist ein anderer Klang als Ä. Das ist ja eine ziemlich revolutionäre Ansicht. Für mich ist die Aussprache der Vokale für die Verständlichkeit des Gesungenen entscheidend.
Früher hat man gesagt, wenn man viele Konsonanten spuckt, dann ist das verständlich. Meine Meinung ist, dass es auf den Gleichklang der Vokale viel mehr ankommt. Deswegen mache ich das mit meinem System überall so, auch bei Bayern oder Nicht-Native-Speakern. Das Türkische hat die Differenzierung der E-Vokale zum Beispiel nicht. Burak hat mit dem Chor Resonanz schon viel Vorarbeit geleistet, aber ich als Deutscher habe es da natürlich leichter, das ist ganz natürlich. Ich hatte drei Tage Zeit und die Aussprache war nur ein Teil der Arbeit, ich musste auch an den Ablauf, an das Tempo und so weiter denken. Eigentlich bräuchten wir jetzt noch ein halbes Jahr.
Barbara Hauter: Hat es mit dem homogenen Bernius-Klang geklappt?
Frieder Bernius: Am ehesten bei dem lateinischen Stück, denn das Latein ist eher wie ein Esperanto, für alle einfach auszusprechen. Das singt sich so, wie es sich liest. Mit der deutschen Sprache ist es sehr kompliziert. Aber bei „Unser Vater“ von Homilius sind wir sehr nahe an das Ideal gekommen. Das hätte ein deutscher Chor nicht besser machen können.
Barbara Hauter: Nehmen Sie etwas für sich mit von dieser Erfahrung?
Frieder Bernius: Ich nehme für meine Arbeit mit, dass es das Wichtigste ist, dass die Sänger brennen. Dass sie unbedingt was machen wollen. Manche bringen weniger Voraussetzungen mit, sind aber interessiert an dem Neuen. Das ist ein wichtiger Aspekt. Wenn Sie ein Ensemble gar nicht kennen, müssen Sie blitzschnell herausfinden, wo Sie anpacken müssen. Wo kann ich die Sänger abholen? Ich wusste einiges über den Dirigenten und sein Ensemble, ich kannte sie von einem Wettbewerb in Marktoberdorf. Von daher wusste ich, dass sie ein Niveau haben, auf dem man was aufbauen kann.
Barbara Hauter: Gibt es denn eine Tradition von barocker Chormusik in der Türkei?
Frieder Bernius: So wie bei uns ist sie nicht. Das Besondere an dem Projekt von Burak ist ja, dass er die Konfrontation mit der mitteleuropäischen Tradition gewagt hat. Er steht für diese neue Entwicklung. Man kennt hier Bach nicht wie bei uns. Aber die Bandbreite der Religionen ist in Istanbul ja vorhanden. Es gibt 180 christliche Kirchen, tausende Moscheen und 117 Synagogen. Es erinnert mich ein bisschen an Jerusalem. Hier wie dort kommen die Religionen auf engem Raum zueinander. Das Konzert war ja dann zum Glück auch voll. Das liegt aber auch daran, dass Burak unfassbar gut vernetzt ist. Er hat mich in ein entsprechend herausforderndes rund um die Uhr-Programm gesteckt.
Barbara Hauter: Sie sind 74, wirken aber maximal wie Anfang 60. Wie schaffen Sie so ein Programm, wie halten Sie sich so fit?
Frieder Bernius: Ich bin Freiberufler und für mich wäre es undenkbar gewesen, mit 65 aufzuhören. Ich war nie der Angestellten-Typ. Ich finde mich schlecht mit vorgegebenen Bedingungen zurecht, ich schaffe lieber meine eigenen. Ich hatte auch mal eine Professur an einer Musikhochschule und musste nach drei Jahren aufhören. Ich kann das nicht. Ich habe meine eigenen Vorstellungen, die sich nicht mit Hochschulen oder Rundfunkchören verbinden lassen. Ich könnte niemals jeden Tag um 10 eine Probe machen. Ich brauche die Abwechslung, nicht die Routine, ich möchte sowohl den Stil als auch die Besetzung wechseln können. Gastprojekte halten ganz besonders fit.
Barbara Hauter: Wie erging es Ihnen mit dem Erlebnis Türkei?
Frieder Bernius: Ich war noch nie in der Türkei. Wir haben in Deutschland kein vollständiges Bild von der Türkei, von den Menschen, die hier leben. Seit dem Gastarbeitervertrag vor 60 Jahren haben wir mehr mit dem handwerklichen Türken zu tun, wenn ich das jetzt so schwarz-weiß ausdrücken darf. Ich war überhaupt nicht mit der Elite, mit der türkischen Welt der Kunst und der Geisteswissenschaften vertraut. Und das habe ich jetzt nachgeholt. Mein Bild von der Türkei ist vollständiger geworden. Ich bin ja mit dem Gefühl hierhergekommen, dass es aus deutscher Sicht ungerechtfertigt war, dass der Journalist Deniz Yücel ein Jahr im Gefängnis war wegen zu kritischer Äußerungen. Das können wir nicht verstehen. Ebenso die Androhung Erdogans, zehn Botschafter aus dem Land zu werfen. Es ist bei dem Konzert in Ankara ja auch ein Empfang in der deutschen Botschaft geplant. Deswegen hat uns das alles vor dem Projekt beschäftigt. Was passiert da eigentlich mit uns? Was weiß man zum Beispiel über die türkische Beteiligung am syrischen Krieg? Oder über die Kurdenfrage? Das sind kritische Themen, mit denen man auch als Künstler konfrontiert ist. Es hilft, wenn man mit der türkischen Bevölkerung spricht und man merkt, dass es große Unterschiede gibt zwischen der großen Politik und der Meinung der Menschen.
Barbara Hauter, 18. Dezember 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at