Das Turangalîla-Experiment der Symphoniker Hamburg steht kurz bevor – Teil 1

Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Sylvain Cambreling und Nathalie Forget – Teil 1 klassik-begeistert.de, 12. Juni 2024

Sylvain Cambreling © Daniel Dittus

Zum Saisonabschluss spielen die Symphoniker Hamburg unter Sylvain Cambreling die Turangalîla-Symphonie von Olivier Messiaen gleich zwei Mal. Am 16. Juni in der Laeiszhalle und am Folgetag in der Elbphilharmonie. Das macht neugierig, auch auf die Ondes Martenot.

Jörn Schmidt im Gespräch mit Sylvain Cambreling und Nathalie Forget 

klassik-begeistert: Liebe ist für Messiaen, mit seinen Worten, eine „kosmische Größenordnung“, die „über das Körperliche, ja über das Geistige hinausweist und sich ausweitet“ und die sich auch nicht aufspalten lässt, weder in Frömmigkeit noch in Erotik. Messiaen war gläubiger Katholik, hat die Symphonie auch religiöse Aspekte?

Sylvain Cambreling: Turangalîla hat mit Religion nichts zu tun. Es hat mit der Natur zu tun, mit Menschen, der Menschheit und mit Liebe in all ihren Formen. 

klassik-begeistert: Sie sprechen die Natur an. Messiaen hat sich auch mit Ornithologie beschäftigt, wenn man so will hat er den Vögeln einiges abgelauscht. Aber wird der Konzertbesucher Amsel, Fink und Star tatsächlich heraushören können?

Sylvain Cambreling: Der Vogelgesang ist das Material, welches Messiaen nutzt, um seine Musik zu kreieren, zu komponieren – es ist keine Imitierung der Natur, es ist eher eine künstlerische Metamorphose der Natur.

 klassik-begeistert: Was sind die Ondes Martenot, und wie spielt man das Instrument? Sind Phrasierungen und Nuancierungen möglich?

 Nathalie Forget: Ja, für mich ist mit Ondes Martenot so ziemlich alles möglich, es ist ein unglaublich hypersensibles Instrument.

Als offizielles Geburtsjahr des Instruments gilt 1928, weil die Ondes in dem Jahr zum ersten Mal gespielt wurden (in der Pariser Oper). Aber eigentlich begann Martenot damit schon um das Jahr 1915, während des Ersten Weltkriegs. Damals gab es bereits den Rundfunk und die Idee hinter seiner Entwicklung war, dass wir trotz der Schrecken des Krieges unseren Glauben nicht verlieren. Und zwar daran,  dass immer noch ein Licht scheint, und dass Menschen zugewandt miteinander kommunizieren können.

Um es nüchterner zu betrachten: Bei den Ondes Martenot handelt es sich um ein monophones elektroakustisches Instrument, das mindestens acht Oktaven abdeckt und einen „Körper“ hat, der mit verschiedenen Lautsprechern verbunden ist. Dieser Körper besteht aus einem kleinen Lineal mit einem Ring und einer Saite, die um ein Potentiometer gewickelt ist (Anm. Jörn Schmidt: man könnte das auch als Schnurzug bezeichnen), einer hängenden Klaviatur und einer kleinen Lade mit einer Ausdruckstaste (expression key), wo der Musiker seine Klangfarben und Lautsprecher auswählen kann. Außerdem gibt es ein Pedal, das die Ausdruckstaste ersetzt.

Nathalie Forget © Minori Matsuoka

Das Spiel am Ring (ring play) ist das Herzstück des Instruments. So können wir Gleitgeräusche (slides) erzeugen, von Infraschall bis annähernd Ultraschall. Die Vielfalt an Glissandi ist unglaublich, das Spektrum reicht  von riesig bis winzig. Oder schnell und lebhaft, scharf oder aber mit einer unmenschlichen Langsamkeit. Aber auch ein extrem flüssiges und kontinuierliches Melodiespiel ist darstellbar, wie es typisch ist für die Musik von Messiaen. Die Klaviatur ergänzt den Ring und ermöglicht verschiedene sensible Vibrati, Klangmassen mit polyphoner Illusion (wie zum Beispiel in der Musik von Tristan Murail), knallende Attacken und Virtuosität (mit temperierten Noten, Vierteltönen oder sogar kleinen Gleitgeräuschen), die mit dem Ring nicht möglich sind.

Die Ausdruckstaste, die mit der linken Hand gespielt wird, bietet überraschende Dynamik: Klänge, die sich aus der Stille bis hin zu schmerzhafter Intensität aufbauen können. Was den Anschlag betrifft, haben wir viele Möglichkeiten: legato, schwerfällig, akzentuiert, staccato, angeschlagen (struck), gehalten angeschlagen (held-struck), getroffen (hit) und verschiedene Tremoli…

Es gibt vier Arten von Lautsprechern, einen trocken klingenden Lautsprecher und drei sog. Resonatoren: Einen für metallischen Klang, dann den Palmen-Lautsprecher (Anm. Jörn Schmidt: der wie eine Hand geformt ist und einen eher warmen Klang erzeugt) und schließlich einen Réverbération-Lautsprecher (Anm. Jörn Schmidt: für Nachhall bzw. Resonanzen). Alle Lautsprecher folgen der gleichen Idee, der Klang entsteht aus natürlichen Schwingungen auf verschiedenen Elementen, also Gong, Saiten und Federn. Diese speziellen Lautsprecher sind der akustische Teil des Instruments. Wir haben eine Reihe von Klangfarben, von extrem leisen bis hin zu nasalen, pfeifenden und penetranten Klängen. Das Instrument kann sogar  das menschliche Atmungssignal imitieren, man nennt das in der Musik 1/f-Rauschen  bzw. rosa Rauschen (pink noise).

Das ist ein wirklich verrücktes und so großes Musikspielzeug!!!

Nathalie Forget © Minori Matsuoka

klassik-begeistert: Welche Aspekte von Liebe und Gläubigkeit stellen die Ondes Martenot dar?

Nathalie Forget: In der Musik Messiaens haben die Ondes Martenot viele Aufgaben, aber der kraftvollste Aspekt ist wahrscheinlich diese unendliche melodische Linie (infinite melodic line). Nehmen Sie nur sein Sextett Fête des Belles Eaux, wo Sie das atemberaubende Thema finden, das er auch für das Cello im  Quatuor pour la fin du temps verwendete. Diese Melodie schreibt sich fort bis zu seiner Oper Saint François d’Assise, wo die Ondes den Engeln ihre räumliche Stimme verleihen.

Diese unendliche Melodielinie soll unsere Welt, wie sie ist, anhalten und umkehren. Hin zu einer  unendlichen Liebe, wie sie im Neuen Testament als Kardinalwert (Anm. Jörn Schmidt: in der Mathematik dienen Kardinalzahlen zur Beschreibung der Mächtigkeit von Mengen) beschrieben ist. Deshalb war  Messiaen auch dem Surrealismus zugetan, denn auch diese Kunstrichtung sieht Liebe als Kardinalwert in unserem Leben. Diese Liebe ist so groß und mächtig, dass sie religiös ist.

Wenn man so will ist das Revolution im besten Sinne – mittels Liebe und mit unendlichem Sanftmut. Außerdem revolutionär dank unendlicher Freude, einer grenzenlosen Welt und Schwingungen zwischen uns und der Natur. Die Ondes haben die Fähigkeit, diesen Klang zu bewahren und ihn nach Belieben zu modulieren. Sogar stundenlang, ohne Unterbrechung, und trotzdem durchgängig lebhaft.

Geradeso kann mein Instrument bzw. konkret diese unglaubliche, unendliche Linie, die lebendig  und trotz ihres Sanftmuts voller Elektrizität ist, so viel mehr als das gesamte Orchester. Wenn man so will sind die Ondes noch viel kraftvoller als das Orchester! Dieses Instrument ist wahrscheinlich, zusammen mit der Orgel, eines der Instrumente, das am besten in der Lage ist, sich dem Göttlichen zu öffnen bzw. zu ihm vorzustoßen. Das ist der Grund, warum ich dieses Instrument so sehr liebe und auserwählt habe.

klassik-begeistert: Sie haben, wie in unserem Gespräch unschwer herauszuhören war, eine ganz besondere Beziehung zu Olivier Messiaen und der Turangalîla-Symphonie. Wie kommt das?

Sylvain Cambreling: Als ich 1977 von Pierre Boulez eingeladen war mit dem „Ensemble intercontemporain“ auf eine große Frankreich-Tournee zu gehen, kam zu den Proben in Paris Olivier Messiaen. Dies war meine erste Begegnung mit ihm, auf die viele weitere folgen sollten. Ich erinnere mich zum Beispiel auch noch gut an die erste Produktion im La Monnaie 1984 in Brüssel.

klassik-begeistert: Herzlichen Dank für das Gespräch!

Jörn Schmidt, 11. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Den zweiten und letzten Teil des Turangalîla-Interviews lesen Sie Donnerstag, 13. Juni 2024, hier auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at.

Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 1 klassik-begeistert.de, 30. Mai 2024

Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 2 klassik-begeistert.de, 31. Mai 2024

Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 3 klassik-begeistert.de, 1. Juni 2024

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