Silvia Azzoni: "Ich glaube, man muss immer neugierig bleiben" – Teil I

Interview: kb im Gespräch mit Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, Teil I  klassik-begeistert.de, 24. Februar 2025

Silvia Azzoni und Alexandre Riabko beim Interview am 18. Februar 2025 (Foto: RW)

Klassik-begeistert im Gespräch mit Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, den Weltstars auf der Ballettbühne, Teil I 

Die kleine Meerjungfrau ist wie ich, klein und zart, aber im Inneren, wie ich auch, mit ganz viel Kraft. Es war eine große Aufgabe, den Bogen von einem kleinen Meerwesen zu einer menschlichen Gestalt zu zeigen, und physisch zudem sehr herausfordernd. Auch mental musste man wirklich alles geben. Und am Ende war ich jedes Mal wirklich fertig.

von Dr. Ralf Wegner

Silvia Azzoni wurde 1973 in Turin geboren und besuchte dort eine Ballettschule. 1991 kam sie nach Hamburg und beendete Ihre Ausbildung an der hiesigen Ballettschule. 1993 wurde sie in das Ensemble aufgenommen und 1996 zur Solistin befördert. Seit 2002 tanzte sie als Erste Solistin, seit 2021 ist sie als Sonderdarstellerin immer noch auf der Hamburger Ballettbühne aktiv. Silvia Azzoni wurde vielfach ausgezeichnet, so u.a. 1996 mit dem Wilhelm Oberdörffer-Preis, 2004 als beste italienische Tänzerin im Ausland, 2008 mit dem als Ballett-Oskar bezeichneten Benois de la Danse. Silvia Azzoni ist seit 2005 mit Alexandre Riabko verheiratet, sie haben eine Tochter, sie wohnen in Hamburg nahe am Zentrum.

Werdegang und erste Rollen

klassik-begeistert: Liebe Silvia, können Sie uns von Ihrem Weg aus Turin zur Ballettschule von John Neumeier berichten?

Silvia: Ich besuchte eine private Ballettschule in Turin. Meine Lehrerin sah in mir mehr Potential und sprach mit meinen Eltern. Ich wurde dann zum Vortanzen an Ballettschulen nach Köln und nach Hamburg geschickt und gleichzeitig zum Prix de Lausanne. Beide Schulen nahmen mich an. Und natürlich war Hamburg mit den vielen Ballettsälen beeindruckender. Ich führte damals außerdem mit Persephone Samaropoulo, einer ehemaligen Tänzerin und damaligen Lehrerin an der Schule, ein Gespräch. Sie hat mich dann endgültig von Hamburg überzeugt.

Silvia Azzoni als Kleine Meerjungfrau (Foto: Holger Badekow, Jahrbücher Ballett-Tage 2006/07)

 klassik-begeistert: Wir haben Sie bewusst erstmals als Dornröschen, das war 1996, in einer Choreographie von Mats Ek gesehen. Sie wurden dort von einem Dealer verführt und setzten sich eine Heroin-Spritze und verfielen danach in eine Art Krampfanfall. Diese Szene blieb bei uns für immer in Erinnerung. Welche Bedeutung hatte für Sie diese Partie?

Silvia: Es kam für mich überraschend, als zweite Besetzung von Bettina Beckmann, einer wunderbaren Solistin, für die Aurora gewählt zu werden. Ich war ganz neu in der Companie, mit kaum Erfahrung. Die Rolle erwies sich als große technische Herausforderung, ebenso die Darstellung des Charakters. Ich habe daran hart gearbeitet. Trotzdem verlief meine erste Vorstellung dramatisch, denn Bettina hatte sich verletzt und ich musste bereits bei der Premiere B einspringen. Ich ging auf die Bühne wie in einem Traum, war wie nicht da, und habe einfach versucht, diesen Charakter auf der Bühne zu finden. Je häufiger ich die Rolle dann tanzte, entdeckte ich mehr und mehr Facetten dieses jungen Mädchens, obwohl ich nie etwas mit Drogen zu tun gehabt hatte. Ich versuchte einfach, mich in diesen rebellischen Charakter hineinzudenken und zu zeigen, was bleibt, wenn man sich so verloren fühlt.

klassik-begeistert: Am häufigsten haben wir Sie wohl als Kleine Meerjungfrau in dem gleichnamigen Ballett von John Neumeier bewundern dürfen, können Sie uns etwas zur Bedeutung dieser Rolle für Sie selbst sagen?

 Silvia: Es war für mich eine großartige Rolle. Die kleine Meerjungfrau ist wie ich klein und zart, aber im Inneren, wie ich auch, mit ganz viel Kraft. Ich habe mich in diese Rolle verliebt. Ich musste damals mit Carsten Jung, der den Prinzen tanzte, ganz viel an der Technik arbeiten. Wir haben so gelacht, wenn wir wegen meiner überlangen Hosen anfangs oft stolperten. Es war eine große Aufgabe, den Bogen von einem kleinen Meerwesen zu einer menschlichen Gestalt zu zeigen, und physisch zudem sehr herausfordernd. Auch mental musste man wirklich alles geben. Und am Ende war ich jedes Mal wirklich fertig.

Wie ging es weiter?

 klassik-begeistert: Liebe Silvia, wir haben Sie seit 1995 mehr als 100 mal in Solopartien auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper erleben dürfen. Die Anzahl ihrer Rollen ist nahezu unerschöpflich. Gibt es etwas, was sie nicht getanzt haben, aber gerne getanzt hätten?

Silvia: Ja! (sie lacht) Es war immer mein Traum, die Desdemona zu tanzen. Es war die einzige Rolle, die ich nie getanzt habe. Nur einmal in einer Werkstatt konnte ich den Haupt-Pas de deux tanzen, damit war aber nur ein kleiner Teil meines Traums wahr geworden.

klassik-begeistert: Sie tanzen ja immer noch und rissen mit kleineren Partien, wie z.B. in Christopher Wheeldons Wintermärchen als Amme oder als Haushälterin in dem Stück Jane Eyre von Cathy Marston das ganze Stück mit ihrer Aura und Darstellungskraft nach oben. Und es sind ja nicht nur die kleinen Partien, die sie immer noch tanzen, zum Beispiel mit ihrem Mann im letzten Jahr den Pas de deux in Ghost Light oder Manon und Des Grieux in der Kameliendame und in diesem Jahr als Aschenbachs Konzepte in Neumeiers Ballett Tod in Venedig. Wie schaffen Sie das?

Silvia: Ich glaube, man muss immer neugierig bleiben. Ich suche immer noch nach neuen Herausforderungen, nach etwas, was mein Körper noch nicht entdeckt hat. Mit dieser Auffassung lässt sich ein bisschen das zunehmende Alter vergessen. Ich lasse mich auch immer noch gern mit einer neuen Rolle überraschen.

klassik-begeistert: Sie und ihr Mann werden im Ensembleverzeichnis jetzt als Sonderdarsteller benannt. Was bedeutet das konkret?

Silvia: Das weiß ich nicht wirklich. Es war zunächst eine kleine Enttäuschung. Es fühlte sich an, wie plötzlich nicht mehr dabei zu sein. Aber ich sagte mir, das steh ich durch. Und ich zeigte, was ich immer noch konnte und auch noch kann. Es ist natürlich schwierig, wenn man nicht mehr Erste Solistin ist, aber so ist das Leben, man muss es akzeptieren (lacht), denn auch die jüngeren Tänzerinnen wollen gefördert werden.

Silvia Azzoni als Mrs Faifax mit Lormaigne Bockmühl und Ida Stempelmann in Cathy Marstons Ballett Jane Eyre (Foto: RW)

klassik-begeistert: Ich erinnere mich an das von John Neumeier inszenierte Ballett Duse, in dem wir sie beide 2016 sahen. Die Details habe ich nicht mehr so präsent, aber es gab einen Pas de deux, welcher mit der Intimität und auch Auseinandersetzung an ein langjährig verheiratetes Ehepaar erinnerte. Mir kam damals die Idee, warum macht Neumeier daraus nicht ein Kammerballett, nur mit Ihnen beiden. Sie würden mit ihrer Präsenz den ganzen Abend tragen. Damit stellt sich die Frage, warum verzichtet man in der Ballettwelt auf die großen Talente im Alter ab etwa 40 Jahren und baut nicht etwas neues auf. Denn Ausstrahlung, Präsenz und Darstellungskraft lassen ja mit zunehmenden Alter nicht ab, sondern nehmen eher zu. Was meinen Sie dazu?

Silvia: Ich finde, Sie haben das richtig gesagt. Es ist aber auch in anderen Bereichen, z. B. in Hollywood bei Schauspielerinnen und Schauspielern so, dass sie nicht mehr besetzt werden, weil sie nicht mehr frisch und hübsch und toll sind. Es ist eigentlich schade, weil Schauspieler oder Tänzer in einem gewissen Alter so viel zu geben haben. Ab einem gewissen Alter kann man zwar nicht mehr körperlich schwere, schwierige Ballette tanzen wie Schwanensee oder Dornröschen. Es gibt aber noch so viele andere Rollen, die noch möglich wären. Wir haben das große Glück, immer noch tanzen zu dürfen. Denn Demis Volpi wollte uns im Ensemble halten, damit wir jüngeren Tänzern etwas weitergeben können, etwas, an dem diese sich ein Beispiel nehmen können.

 Wie ein Fisch im Wasser, bei Demis Volpi

klassik-begeistert: In einem Interview sagten Sie, man fühle sich unter Demis Volpi wie ein Fisch im Wasser und müsse lernen, mit den neuen Fischen zurecht zu kommen. Wir sahen Sie kürzlich in Volpis Choreographie the thing with feathers. Ich schrieb dazu bei klassik-begeistert: „Silvia Azzoni war es gegeben, mit einem kurzen Auftritt ihr ganzes Können zu zeigen. Die wenigen Minuten der liebevollen Zuwendung an Jack Bruce zeugten nicht nur von der darstellerischen Kompetenz dieser Ausnahmetänzerin, sondern vermochten auch tief im Inneren zu berühren“. Wie gelang Ihnen dieser Sprung in eine gänzlich andere choreographische Handschrift?

Silvia: Es war nicht das erste Mal, dass wir etwas anderes als von John Neumeier tanzten. Jedes neu erlernte Ballett wird im Körper abgespeichert, kommt sozusagen in einen besonderen Koffer. Und wenn man eine neue Choreographie tanzt, kann man auf Inhalte dieses Koffers zurückgreifen oder neu lernen, um einen anderen Koffer zu füllen. Es war sehr interessant für mich mit Jack zu tanzen, der die Rolle kreiert hat. Er sagte mir, wir müssten uns nicht an die Originalversion halten, wir könnten etwas Neues frei erfinden. Er hat von mir nicht verlangt, es so zu machen, wie er es gelernt hat. Das war sehr nobel von ihm. Wir haben dann zusammen etwas ganz besonderes neu erfunden. Das war für mich ganz toll und berührend.

The thing with feathers: Jack Bruce und Silvia Azzoni (Fotos: Kiran West)

klassik begeistert: Wie merkt man sich was man tanzen muss? Ist es die Musik? Es gibt ja für den Tanz keinen Souffleur im Souffleurkasten.

Silvia: Einmal vor einer Vorstellung zu Mozart war ich ziemlich müde und konnte mich an meine Schritte nicht mehr erinnern. Ich musste als erstes ein Solo tanzen und mein Körper und mein Gehirn machten total zu. Ich sah zu Sascha (Alexandre) hin und er sagte, bleib ganz ruhig, und wenn die Musik da ist wirst du schon tanzen. Und der Vorhang ging auf und ich war so nervös und dachte, ich würde einfach so da stehen. Und die Musik hat gespielt und ich habe getanzt. Das ist eine Muskelerinnerung. Die Muskulatur hört die Musik und tanzt, obwohl das Gehirn noch zu ist (lacht).

klassik-begeistert: Vielen Dank für das Gespräch!

Dr. Ralf Wegner, 24. Februar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Teil 2 unseres Interviews lesen Sie Mittwoch, 26. Februar 2025 und Teil 3 Freitag, 28. Februar 2025, hier auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at.

Interview: klassik-begeistert im Gespräch mit Michal Sedláček, Choreograph und Ballettdirektor in Halle, Teil 1 klassik-begeistert.de, 16. Oktober 2024

Interview: klassik-begeistert im Gespräch mit Michal Sedláček, Choreograph und Ballettdirektor in Halle am 16. Oktober 2024, Teil 2

Interview: klassik-begeistert im Gespräch mit Michal Sedláček, Choreograph und Ballettdirektor in Halle, Teil 3 klassik-begeistert.de, 16. Oktober 2024

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