Foto: Professor Fredrik Schwenk, © Festival junger Künstler Bayreuth
„Wie kam es aber, daß der Musiker sich endlich mit einem tonlosen Instrumente begnügte? Aus keinem anderen Grunde, als um allein, ganz für sich, ohne gemeinsames Zusammenwirken mit anderen, sich Musik machen zu können.“, so Richard Wagner im zweiten Teil seiner Schrift „Oper und Drama“. Seine Worte bezogen sich auf das Klavierspiel, das der Komponist für nur „eine Unzahl der in Bewegung gesetzten klappernden Hämmern“ hielt. Heute könnte man sich ähnlich über die künstliche Intelligenz in der Musik äußern. In welchen Fällen und in welchem Umfang man sie einsetzen kann – darüber spreche ich mit Professor Fredrik Schwenk, dem unseren Lesern bekannten Komponisten, Musiktheoretiker und Pädagogen.
von Jolanta Łada-Zielke
klassik-begeistert: Die künstliche Intelligenz ist eigentlich nicht neu. 1956 komponierte ein Computer an der Universität Illinois die „Illiac Suite“ für Streichquartett. Zwei Programmierer, Lejaren Hiller und Leonard Isaacson, haben dieses Experiment durchgeführt[1]. Aber erst jetzt ist die KI zum meistdiskutierten Thema geworden, auch in der Musik.
Fredrik Schwenk: Vor ungefähr fünfzehn Jahren gab es ebenfalls ein Computerprogramm, aus dem man Bach Choräle generieren konnte. Zunächst fütterte man den Computer mit allen existierenden Bach-Chorälen. Dann gab man eine beliebige Choralzeile ein, die das Programm auf der Grundlage der implementierten Choraldaten weiterschrieb. All diese „erfundenen“ Choräle klangen sehr schematisch; der Computer gab das wieder, was Bach komponierte, erfand jedoch nichts Neues. Hätte Bach weitere Choräle zu bestimmten Melodien geschrieben, wären dem Programm vielleicht noch andere Verbindungen abzugewinnen gewesen. Aus meiner Sicht bedienen diese KI-Programme nur Klischees, oder imitieren den Personalstil eines bestimmten Komponisten nach bestmöglicher Eingabe und optimiertem Algorithmus.
klassik-begeistert: Kann ein Computerprogramm den Stil eines bestimmten Komponisten originalgetreu wiedergeben?
Fredrik Schwenk: Ein gutes Beispiel ist hier das gerade veröffentlichte Scherzo aus Beethovens Zehnter Symphonie, das ein Computer auf der Grundlage weniger Skizzen komponiert hat. In meiner Kompositionsklasse haben wir dieses Werk angehört. Jeder der Studierenden hat darin ein paar Stellen gefunden, von denen er sagen konnte: dies kann aus diesen und jenen Gründen nicht von Beethoven sein. Nach genauerer Analyse des Stücks haben wir festgestellt, dass in diesem Fall verschiedene Probleme zusammenkommen.
klassik-begeistert: Und dies sind…?
Fredrik Schwenk: Bei Bach, oder generell bei der Barockmusik, haben wir es mit einer gewissen Schablonenartigkeit (natürlich nicht im negativen Sinne) zu tun. Das heißt, bestimmte motivisch-thematische oder harmonische Verbindungen sind austauschbar, tauchen in vielen Werken dieser Zeit auf. Die Wiener Klassiker, besonders Gluck, Haydn, Mozart und Beethoven, entwickelten den Personalstil, das Individuelle in der Musik einen großen Schritt weiter. Diese Individualität durch einen Computer auszudrucken, entspricht nicht dem Wesen Beethovens. Er hätte über ein solches erstes Ergebnis vielleicht geschmunzelt, dann aber gesagt: „Moment, jetzt kommt aber die nächste Phrase, und ich muss noch mal darüber gehen, das Material weiterentwickeln“.
Das Thema der Neunten Symphonie skizzierte der Komponist in einer ersten Rohfassung. Wir wissen heute nicht genau, wie viele nicht fixierte Entwürfe er dazu machte, bis eine endgültige Version entstand. Wenn man so eine Rohskizze in einen Computer eingibt, könnte dieser eine ähnliche Entwicklung errechnen. Bisher kann jedoch noch kein Computerprogramm dies so herstellen wie Beethoven, also die originale Struktur aufbrechen, zerstören, und ihr eine andere Richtung geben. Gerade höchst individuelle, von einer momentanen Inspiration getroffene Entscheidungen sind (vielleicht noch) nicht möglich.
klassik-begeistert: Im Februar 2019 hat man in der Londoner Cadogan Hall eine vollendete Version der „Unvollendete Symphonie“ Schuberts aufgerührt. Ein Huawei-Smartphone hat die zwei fehlenden Sätze dazu verfasst. Das war ein Experiment, deutet aber daraufhin, dass die KI beim Rekonstruieren von nicht vollständig erhaltenen Werken helfen kann?
Fredrik Schwenk: Bald werden wir die vom Computer vollendete Neunte Symphonie von Bruckner bekommen. Die Zehnte von Mahler existiert bereits in verschiedenen Fassungen. Es gibt jedoch einige unvollständige Meisterwerke, die man in Originalform zur Aufführung bringt: Schuberts „Unvollendete“, der Schluss von Puccinis „Turandot“ und die „c-Moll-Messe“, teils in zu Ende geführten Fassungen, die im Umfeld der jeweiligen Komponisten entstanden sind und sich als Kompromiss durchgesetzt haben. Die Sache mit der Vollendung der Unvollendeten ist für mich wie Eulen nach Athen tragen. Die „Unvollendete“ war nicht die letzte Symphonie von Schubert, später komponierte er die große C-Dur Symphonie, die vier vollständige Sätze enthält. Muss man also unbedingt ein Werk zu Ende führen, welches von seinem Schöpfer als vollendet betrachtet wurde? Das ist eine nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine moralische, beziehungsweise ethische Frage, weniger eine der künstlichen Intelligenz. Zwar reicht das verbliebene Material des Scherzos aus der „Unvollendeten“, um daraus einen vollständigen Satz zu machen. Dies könnte eine KI-Aufgabe sein. Aber ich meine, Schubert dreht sich im Grab um, wenn man versucht, die zwei in sich so geschlossenen Sätze um einen dritten und vierten zu ergänzen.
klassik-begeistert: Welche Stücke kann man denn auswählen, um diese mit KI zu überarbeiten?
Fredrik Schwenk: Man kann einen interessanten Wettbewerb durchführen: auf der einen Seite die KI, und auf der anderen vier oder fünf lebendige KomponistInnen. Die Aufgabe wäre, den letzten Satz der Neunten Symphonie von Bruckner zu schaffen. Dann gleicht man die Ergebnisse ab. Selbst für musikalisch vorgebildete Menschen wäre es wohl schwierig, sich in Bruckners Stil einzufühlen. Die KI würde hier als Sieger hervorgehen, weil sie alle Brucknerschen Symphonien als Software „im Kopf“ hätte, und daher all seine möglichen Verbindungen einsetzen kann. Aber Bruckner geht gerade in seinen letzten Symphonien, in der Siebten, Achten und Neunten, andere Wege. Daher wissen wir nicht, wie er den letzten Satz der Neunten Symphonie endgültig gestaltet hätte. Vielleicht mit einem Schlusschor? Wahrscheinlich nicht. Hätte er die Symphonie in einem strahlenden D-Dur enden lassen? Hätte er die Themen übereinandergeschichtet, wie am Schluss der Achten Symphonie? So kann man lange spekulieren. Natürlich wäre so etwas spannend, ob aber nützlich für die Menschheit? Im Bereich Medizin leistet die KI schon unglaubliche Dienste. Durch ihre Präzision nimmt sie bestimmte operative Eingriffe vor, welche ein Arzt nicht oder nur mit einem gewissen Risiko leisten kann. Aber ich stelle grundsätzlich infrage, ob KI in der klassischen Musik überhaupt einen Sinn hat.
klassik-begeistert: Ist ein Computer in dem Sinne eher reproduktiv als kreativ?
Fredrik Schwenk: Ich finde es spannend, ob ein Computer alle gespeicherten Informationen über ein Werk eines Komponisten samt biographischem Hintergrund verbinden kann. Beethoven schrieb die „Neunte“ in den Jahren 1821-1824, als er längst taub war und sich auf sein inneres Ohr konzentrieren musste. Der Kontext dieses Werkes ist auch Teil von Beethovens gesellschaftlichem Umfeld seiner letzten Lebensjahre. Die KI funktioniert in unserem heutigen Umfeld. Es bleibt also offen, ob überhaupt und wenn ja, welchen ästhetischen, künstlerischen und vielleicht noch innovativen Wert die KI unter Einbeziehung der späten Jahre Beethovens überhaupt leisten kann. In meiner Kompositionsklasse haben wir versucht, ein neues Computerprogramm zu testen, indem wir ihm aufgegeben haben, zwei Minuten eines Musikwerkes von Helmut Lachenmann (*1935) zu schreiben. Der Computer hat geantwortet: „Das kann ich nicht, aber ich beschreibe euch, wie Lachenmanns Musik klingt“. Ich glaube, es ist nur die Frage der Zeit, bis bestimmte, individuelle Parameter in der neuen Musik durch KI ersetzt werden können.
klassik-begeistert: François Pachet erfand den so genannten „Continuator“, der nach einem Algorithmus eine Fortsetzung einer Melodie komponiert. Wer ist hier der wirkliche Autor des Stücks: ein Komponist, oder ein Computer?
Fredrik Schwenk: Solche Programme wie der „Continuator“ nutzt man bereits in der Pop-Musik. Man gibt die populärsten Melodien ein und der Computer macht ein Remix daraus. In der Unterhaltungsmusik spielt es eigentlich keine Rolle, wer einen Song schreibt, weil ohnehin viele Personen mit unterschiedlichen Interessen dahinterstehen. Dieses Jahr hatten wir in der Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule in Hamburg einen Bewerber aus Asien, der dieses Programm benutzt hat. Ich frage dann immer nach der ästhetischen Selektion. Ein Komponist würde sagen: „Hier sind die Varianten von A bis E richtig gut, die Variante F ist aber schlecht und sollte entfernt werden“. Wie kann ein Computer entscheiden, welche Variante künstlerisch und qualitativ gleichwertig ist? Ein Computer kann nicht beurteilen, ob ein Beethoven-Satz ästhetisch oder qualitativ hochwertig ist; er legt ein Muster fest, das tatsächlich von Beethoven stammt, aber vielleicht nicht gerade in Zusammenhang mit einer bestimmten Stelle im Stück. Beethoven selbst hätte behauptet: „Naja, vor dreißig Jahren war ich noch nicht so erfahren, heute würde ich diese Stelle anders schreiben“. Ein Computer „bedenkt“ so etwas noch nicht. Zwar gibt es viele KomponistInnen, die sich mit Matrix basierten Ideen, beziehungsweise mit Algorithmen auseinandersetzen und einen Computer benutzen, der das eigene Werk fortschreibt. Ich als Komponist würde das nicht tun, finde es jedoch richtig, Programme zu benutzen, um sich davon inspirieren zu lassen. Die eigenständige Überprüfung, ob das funktioniert und, wenn nötig, korrigiert werden muss, sollte niemandem erspart bleiben. Übernimmt ein Computer die gesamte kreative Arbeit, wäre dies aus meiner Sicht problematisch.
klassik-begeistert: In der Aufführungspraxis ist die Interaktion zwischen dem Künstler und dem Publikum sehr wichtig. Wie können Zuschauer eine Interaktion mit einem Computer eingehen?
Fredrik Schwenk: Ein Künstler lebt von der Begegnung, beziehungsweise Auseinandersetzung mit dem Publikum, zunächst im Zuge der Interpretation seines Werkes, dann durch die Reaktion des Publikums. Diese „Reibungsfläche“ zwischen Produzenten und Rezipient macht doch die Kunst aus. Warum sollen wir uns in einem Konzertsaal eine Symphonie anhören, die ein Computer komponiert hat? Nur um denjenigen zu gratulieren, die ihn programmiert haben? Ich bin nicht sicher, ob das einen Sinn hat, denn programmieren ist nicht komponieren. Ich würde ergänzen, dass ein zeitgenössischer Künstler immer auf die Gesellschaft reagiert, davon beeinflusst oder gar inspiriert wird, was um uns herum geschieht. Ich glaube nicht, dass ein Computer die Aspekte unseres „Hier und Jetzt“ als Algorithmus aufnehmen kann, um daraus Kunst zu kreieren. Darin liegt vielleicht der wesentliche Unterschied. Wenn ich an ein neues Werk herangehe, studiere ich oft Partituren. Ich schreibe ein Chorstück und sehe, was meine KollegInnen für Chor geschrieben haben. Die Inspiration kommt beispielsweise, wenn ich einen Chor mit einem bestimmten Werk oder in einer bestimmten Umgebung höre, und spontan fällt mir etwas ein. Oder die Natur inspiriert mich zu bestimmten Klängen. Heute lassen sich diese Inspirationsquellen noch nicht vollumfänglich in ein Computerprogramm einbauen. Dennoch ist davon auszugehen, dass sich in den nächsten zehn Jahren auch die Softwaretechnologie in diese Richtung entwickelt.
klassik-begeistert: Beim diesjährigen 73. Festival junger Künstler Bayreuth werden Sie einen KI-Workshop führen. Was für ein Stück werden Sie bearbeiten?
Fredrik Schwenk: Der diesjährige Kompositionsworkshop beschäftigt sich mit dem brisanten Thema KI auf zweierlei Weise: Beethovens aus Skizzen mittels KI erzeugtes Scherzo seiner Zehnten Symphonie, das weltweit und medienwirksam Aufsehen erregte, wird von jungen Komponistinnen und Komponisten hinsichtlich seiner künstlerischen Qualität aber auch im Hinblick auf die Sinnhaftigkeit solcher Prestigeprojekte untersucht, das Ergebnis im Rahmen eines Werkstattgesprächs mit dem Publikum diskutiert. Im zweiten Teil des Workshops bereiten wir ein absurdes Dada-Theater mit Gedichten und Musikbeispielen aus den dreißiger Jahren vor – unten anderem von Kurt Schwitters – die wir in einem KI-Programm neu generieren und zusammen mit KI entwickelten Bildern als Inspirationsquelle für neue dadaistische Kompositionen nutzen und halbszenisch realisieren wollen. Dabei soll das Miteinander von KI und menschlicher Kreativität Fokus stehen.
klassik-begeistert: Sie machen im Festival auch ein anderes Projekt „Aufbruch ins neue Jahrhundert – Chorwerke an der Schwelle der Epochen“, mit „Dixit Dominus“ von Händel und Monteverdi in Verbindung mit Ihrem „Clemens dominus et iustus“.
Fredrik Schwenk: Dieses Projekt wurde schon zweimal verschoben, zunächst wegen Corona, schließlich weil wir keine geeignete Tanzgruppe finden konnten. Bei Händel und Monteverdi spielt nun ein junges Barockorchester, bei meinem Stück ein modernes Streichquintett. Die Idee dahinter war, zu zeigen, dass eine Psalmvertonung aus dem Jahr Jahre 1705 so aktuell sein kann wie eine Neuvertonung desselben oder inhaltlich ähnlichen Textes. In diesem Sinne erklang in einem Konzert in der Elbphilharmonie im April dieses Jahres mein „Ut quid Domine“, kombiniert mit einem Oratorium von Carl Philipp Emanuel Bach. In Bayreuth wird die Verbindung zwischen alt und neu noch stärker sein. Ich greife einzelne, kurze Chorpassagen von Händel heraus und setze sie in mein Stück ein, um den Zusammenhang der verschiedenen Epochen herauszuheben. Ein Tanzensemble der Bosl-Stiftung wird die Psalmvertonung in einer zeitgemäßen Choreographie neu interpretieren.
klassik-begeistert: Wird die künstliche Intelligenz in der Musik, Ihrer Meinung nach, nur in der experimentellen Phase verbleiben? Oder würde sie große Werke schaffen, die man zukünftig auf den Weltbühnen aufführen wird?
Fredrik Schwenk: Natürlich muss die Forschung im Bereich KI weitergehen. Aber ich würde sagen: alles, was durch KI komponiert und aufgeführt wird, bleibt vermutlich marginal, weil draus kein Nutzen entsteht. Bei so spekulativen Ereignissen wie Beethovens Zehnter Symphonie mag dies ein gewisses Aufstehen erregen; das Scherzo ist ja bereits vollendet, bald soll das Finale kommen. Die KI kann aber die von Menschenhand produzierte Musik auf keinen Fall ersetzen. Viele KünstlerInnen der neuesten Generation sagen: für das Komponieren brauchen wir keinen Computer, sondern unsere eigenen Köpfe und vielseitige Inspiration. Der Computer hilft, aber er ersetzt uns nicht. Die KI wird sich am ehesten im Bereich Pop- und Werbemusik weiterentwickeln, dort wo Musik kommerzieller Erfolge erzielen soll. Die KomponistInnen klassischer Musik bauen nach wie vor auf das individuelle, einzigartige, menschliche, mehr irrationale als algorithmischen in der Musik. Der Einsatz von KI hilft, inspiriert, aber ersetzt nicht den künstlerischen Schaffensprozess.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Interview: Jolanta Łada-Zielke, 30. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
[1] In meinen Fragen zitiere ich die Beispiele der Sendung „Leporello“ auf BR-Klassik vom 9. Oktober 2019
Interview mit der Komponistin Joanna Wnuk-Nazarowa klassik-begeistert.de, 1. April 2023