Die drei „Elektrikerinnen“ Trine Møller, Edna Prochnik und Lena Kutzner. Photo: Andreas Ströbl
Die Wogen der Begeisterung schlagen hoch, sowohl beim Publikum als auch bei den Musikjournalisten: Richard Strauss’ „Elektra“ in der Inszenierung am Lübecker Theater wird seit der Premiere am 27. Januar zu Recht als Ausnahme-Produktion gefeiert, die den Vergleich mit Aufführungen an den ganz großen Häusern nicht zu scheuen braucht.
Im Interview erzählen die drei Protagonistinnen, was die Entwicklung dieses Psychodramas so besonders macht und wie es war, mit Brigitte Fassbaender zu arbeiten.
Das Interview mit den Sopranistinnen Trine Møller (Elektra) und Lena Kutzner (Chrysotemis) sowie der Mezzosopranistin Edna Prochnik (Klytämnestra) führten die Dres. Regina und Andreas Ströbl.
klassik-begeistert: Wir haben hier die Crème de la Crème der Lübecker „Elektra“ am Tisch, also die Titelheldin, ihre Schwester und beider Mutter. In der dritten Vorstellung habt ihr eine Aufführung hingelegt, die noch schrecklicher, schöner und aufrüttelnder war als die Premiere. Kommt ihr jetzt allmählich in eine Art Routine oder kocht euch jedes Mal das Blut?
Trine Møller: Auf keinen Fall ist es Routine! Die „Elektra“ ist so eine wahnsinnig große und tiefgehende Rolle. Es ist blutiger Ernst und das bleibt auch so. Ich versuche jedes Mal, das neu zu erleben.
klassik-begeistert: Stellst du jetzt schon eine Entwicklung fest, entdeckst du irgendwelche neuen Facetten?
Trine Møller: Ja, auf jeden Fall. Aber ich entdecke jetzt nichts Neues in der Partitur, sondern finde in dem ganzen Reichtum andere psychologische Beziehungen oder Tiefen; es ist wie der Kommentar zu einem Text. Beim Singen und Spielen merke ich, „Ach, das muss sie jetzt tatsächlich fühlen!“. Das ist sehr interessant; ich liebe es, wenn das passiert.
klassik-begeistert: Ihr habt da ja miteinander ein echtes Psychodrama abgeliefert bzw. müsst es ständig wieder abliefern. Ist das für euch eine Art Katharsis, fühlt ihr euch hinterher befreit, weil ihr endlich auch mal ekelhaft sein durftet? Oder sagt ihr „Um Himmels willen, das macht mich alles so fertig!“
Edna Prochnik: Das ist natürlich eine Frage für mich, weil ich ja eigentlich die Böse bin. Aber Brigitte Fassbaender wollte nicht, dass ich so eine typische Böse sein soll, sondern auch sehr zerbrechlich, und somit sind die ganzen Beziehungen schon sehr fein gesponnen. Natürlich kommt der Text dazu und dann kann es auch gruselig klingen, aber ich fühle mich in dieser Produktion weniger grausig als ich zuvor dachte. Auch angreifbar.
klassik-begeistert: Gerade in der Interaktion mit Trine – du versuchst doch auch irgendwie eine Nähe herzustellen.
Trine Møller: Ja, denn eigentlich bin ich ja die Böse. Ich habe doch von Anfang an einen sehr bösen Plan.
klassik-begeistert: Na, was heißt böse? Das ist doch die Disposition, du kannst letztlich nicht anders, du bist ja weniger boshaft als kalt, nüchtern und berechnend. Oder siehst du das nur als Oberfläche, weil du im Grunde deine Psyche auch schützen musst?
Trine Møller: Klar. Elektra ist natürlich nicht böse im engen Sinne. Aber ja, sie muss ihre Psyche schützen, völlig richtig.
klassik-begeistert (an Lena Kutzner): Du hast ja im Grunde eine fast harmlose Rolle. In dieser Inszenierung ist aber natürlich nichts eindimensional. Es ist alles psychologisch ausgelotet, es gibt eine großartige Personenregie und ihr spielt und singt das alles, Abgründe, Angreifbarkeiten, innere Brüche. Ist die Chrysotemis für dich eine so klare Figur oder denkst du, dass es in ihr so positiv gar nicht aussehen kann?
Lena Kutzner: Eigentlich hat sie nur einen ganz simplen Wunsch: Sie möchte ein normales Leben führen, aber das ist ja gar nicht einfach, wenn man sich überlegt, mit wem sie da eingesperrt lebt und nicht herauskommt. Sie möchte einen Mann und Kinder haben, sie hat einen ganz, ganz großen Wunsch nach einer normalen Familie. Wenn Klytämnestra kommt, ist sie weg, weil sie eine furchtbare Angst vor ihr hat. Im Gegensatz zu Elektra meidet sie die Konfrontation mit ihrer Mutter, aber ein gutes schwesterliches Verhältnis hat in dieser Geschichte ebenfalls keine Chance.
Aufgrund der tollen Musik und des brillanten Textes von Hoffmannsthal fällt mir das Hineinfinden in die Rolle allerdings gar nicht schwer. Das hat Brigitte auch während der Probenarbeit immer gesagt hat: Konzentriert euch auf das, was ihr singt, weil der Text so wichtig ist, weil der eigentlich alles mitgibt. Und das zieht die Figuren dann in die jeweilige Richtung und in die Konstellation.
klassik-begeistert: Frei nach Adorno gibt es kein normales Leben in dieser durchgeknallten Familie. Wenn man das jetzt als gigantische Familienaufstellung nimmt – wie schrecklich oder einsam hast du, Lena, dich in der Wiedergabe dieser Rolle gefühlt?
Lena Kutzner: Nicht einsam, sowieso nicht mit den wundervollen Kolleginnen. Ich bin als Chrysotemis zwar völlig isoliert, aber als einzige auch gesund geblieben, weil ich den Konfrontationen aus dem Weg gehe. Ich habe zwar irgendeine Beziehung mit Elektra und hoffe, dass sie mir hilft, aber sie zieht halt ganz stringent ihren Plan durch und so bin ich als Chrysotemis mit meinen Träumen schon sehr einsam. Ich möchte Nähe und Wärme und das bekomme ich nicht von dieser Familie.
klassik-begeistert: Alle haben ja ihre Rolle zu spielen und keiner ist frei. Auch Klytämnestra hat ihre Gründe, denn ihr Mann hat ja das gemeinsame Kind geopfert.
Edna Prochnik: Der offenbar auch keine Wahl hatte…
klassik-begeistert: Richtig. Eigentlich sind alle Opfer des Fatums, das über der Familie hängt. Es ist wie bei Kleist, da fängt was irgendwo an und der schlimme Ausgang ist unumgänglich. Kein Wunder, dass die einzelnen Personen dann psychische Probleme bekommen. Elektra agiert ja geradezu autistisch, aber das war sie womöglich schon vorher.
Trine Møller: Genau. Brigitte hat mir mitgegeben, dass Elektra eigentlich autistisch ist. Wir haben hier ja alle dieselbe Geschichte aber wir zeigen ganz unterschiedliche Reaktionen darauf.
Lena Kutzner: Das macht ja auch die Tragik zwischen uns aus. Wir haben da immer wieder diese Momente, wo wir uns umarmen wollen und nicht können. Und einmal durchbreche ich das in „Mein Gott, Orest ist da und Aegisth ist jetzt tot!“. Da umarme ich endlich Elektra und sie bleibt.
klassik-begeistert: Eigentlich ist sie doch eine große Projektionsfläche ihres toten Vaters bzw. ihr Vater ist die Projektionsfläche ihres ganzen Daseins. Also letztlich besteht sie nur aus Papa: „Hier, Papa, deine Sachen, deine Aktentasche, deine Handschuhe; Papa, ich mach das alles wieder so, als wärst du da.“ In seinem Schlafanzug und seinen Stiefeln.
Edna Prochnik: Es ist wie diese Schmuckstücke, die man als Erinnerung an jemanden trägt. Sowas haben wir ja alle, nur sie ist komplett darin gefangen.
Trine Møller: Ja, diesen Fokus muss sie halten und diese Sachen erinnern sie ständig an ihre Aufgabe.
klassik-begeistert: Also, ein Fetisch, der sie stark macht. Und die Handschuhe schaffen auch eine Distanz zwischen ihr und der Welt. Sie hüllt ja die Hand, die die Tat ausführt, in etwas ein, das ihrer inneren Überzeugung nach diese Vaterkraft hat.
Edna Prochnik: Auch für mich ist das unangenehm, sie in diesem Schlafanzug zu sehen. Es ist eine ständige Erinnerung. Es ist unheimlich und das Kind war schon immer unheimlich, denke ich. Als Autist ist man ja geboren. Und Klytämnestra will einfach Ruhe. Sie hat dauernd Angst, dass jemand sie tötet. Sie kann nicht schlafen, weil aus jeder Ecke etwas droht. Und Leute, die nicht schlafen können, können sich nicht konzentrieren und werden auch böse.
klassik-begeistert: Klar, du bekommst Halluzinationen, weil du die normale Traumreinigung nicht hast, und du kannst irgendwann nicht mehr zwischen Realität und Wahn unterscheiden. Schläft Chrysotemis gut?
Lena Kutzner: Wahrscheinlich am besten von den dreien. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich in Embryonalhaltung in irgendeiner sicheren Ecke verkriecht, wo sie weiß „Hier unter der Treppe würde Mutti niemals suchen“ und da ist sie einfach Kind. Wenigstens hat sie keine Angst um ihr Leben. Aber es sind alle irgendwie gestört. Griechische Tragödie eben.
klassik-begeistert: Wieviel Freiraum hatte ihr denn für die Gestaltung eurer Rollen? Brigitte Fassbaender wäre nicht sie selbst, wenn sie euch als Akteurinnen nicht Spielraum ließe.
Trine Møller: Ich hab mich so frei gefühlt! Sie hat uns eher Schlüssel in die Hand gegeben, aber nicht gesagt, „Mach diese Schritte so oder so“. Sie hat immer gesehen, wenn wir etwas wirklich verstanden haben oder wenn etwas noch nicht passte.
Lena Kutzner: Sie hat kluge und starke Ausgangspunkte für alle gehabt. Jeder wusste mit seiner Figur umzugehen und dann hat sie eher Dinge eingestreut. Sie hat uns auch sehr gelobt und das war immer ehrlich.
klassik-begeistert: Brigitte Fassbaender kann sicher auch knallhart sein, wenn man nicht vorbereitet ist. Aber die Frau ist so authentisch, aufrichtig, klar und herzlich, die meint alles 1 zu 1, was sie sagt.
Lena Kutzner: Sie hat das ja alles auch selbst gemacht und weiß genau, wie man sich dabei fühlt und worauf es ankommt.
Edna Prochnik: In meinem Fall war das ein bisschen tückisch, weil sie ja die Rolle gespielt und überhaupt nicht gemocht hat. Sie wollte jetzt nicht mehr Klytämnestra als Biest, sondern ihr auch feine Gefühle und eine Zerbrechlichkeit verleihen. Es ist in Wahrheit eine kleine, verletzliche, innerlich ganz kaputte Frau.
klassik-begeistert: Die Klytämnestra war ja auch in ihrer Interpretation wirklich im besten Sinne grauenhaft und schrecklich! Aber es wäre doch langweilig und eindimensional, wenn sie immer nur als Miststück erschiene.
Edna Prochnik: Ich denke, diese Erfahrung, die wir hier gehabt haben, ist auch etwas ganz Besonderes. Die Tatsache, dass wir so hier sitzen können und darüber noch philosophieren, das ist schon sehr speziell. Und ich denke, noch viele Jahre werden wir uns immer wieder daran erinnern.
Lena Kutzner: Unbedingt. Die Chance mit dieser Künstlerin, mit deren Aufnahmen wir vermutlich alle groß geworden sind, arbeiten zu können, das war ein ganz großes Geschenk!
klassik-begeistert: Ihr Lieben, wir danken Euch für dieses spannende Gespräch und freuen uns auf die kommende Vorstellung am 22. März, weitere folgen noch am 28. März sowie am 7. und 12. April.
Elektra, Musikdrama von Richard Strauss Theater Lübeck, Premiere am 27. Januar 2024
Gaetano Donizetti „La fille du régiment“ Theater Lübeck, Premiere am 8. März 2024