Chen Reiss: „Wäre Fanny Hensel ein Mann gewesen, hätte sie eine Oper geschrieben!“ – Teil 1

Interview mit der israelischen Sopranistin Chen Reiss – Teil 1  klassik-begeistert.de, 14. Dezember 2023

Chen Reiss © Claudia Prieler

Über CD-Aufnahmen, Gustav Mahler, Opern, finnische Dirigenten, seltenes Repertoire, Lahav Shani, Meisterkurse, das Leben auf Reisen und das Konzertpublikum im Allgemeinen und im Besonderen: Ein Gespräch in zwei Teilen mit der israelischen Sopranistin Chen Reiss.

 Brian Cooper im Interview mit der israelischen Sopranistin Chen Reiss – Teil 1

klassik-begeistert: Liebe Chen, ich freue mich sehr, heute mit Dir zu sprechen. Wir kennen uns ja schon seit etwa anderthalb Jahrzehnten, ich hatte die Ehre, das Booklet Deiner zweiten CD zu schreiben, nebenher ein wenig für Deinen damaligen Agenten zu arbeiten, und seit etwa Mitte der 2000er verfolge ich Deine steile Karriere mit Freude und Interesse. Seit Deiner ersten Aufnahme aus dem Jahr 2006 – italienische Lieder von Schubert und Donizetti – hast Du viele weitere CDs gemacht. Oft mit durchaus ungewöhnlichem Repertoire. Wie suchst Du eigentlich das Programm für eine CD aus? Machst Du die Vorschläge? Oder kommt ein Label-Mensch auf Dich zu? Wie läuft das ab?

Chen Reiss: In jeder Solo-CD möchte ich eine Geschichte erzählen und ein seltener aufgeführtes, wenngleich erstklassiges, Repertoire ans Licht bringen. Es gibt immer einen roten Faden, der die verschiedenen Nummern verbindet. Die Ideen und das Repertoire wähle ich oft allein oder manchmal auch mit meinen musikalischen Partnern aus. Die Stücke für die CD, die Fanny Hensel & Felix Mendelssohn gewidmet ist, habe ich zum Beispiel zusammen mit Daniel Grossmann ausgewählt. Wir wollten die Geschichte einer berühmten jüdischen Familie erzählen, die zum Christentum konvertierte – wie viele andere Familien, die sich assimilieren und in die deutsche Gesellschaft aufgenommen werden wollten. Wir erzählen ihre Geschichte, und insbesondere die von Fanny Hensel, einer brillanten Komponistin, durch ihre Musik. Oder denk mal zum Beispiel an meine CD Immortal Beloved, die selten eingespielte Sopran-Arien von Beethoven enthält. Es war mir wichtig, Beethovens eher schlechten Ruf als „sängerfeindlicher“ Komponist zu korrigieren. Ich denke, ich habe meinen Standpunkt bewiesen, und hoffe, dass ich anderen Sängerinnen und Sängern vielleicht Mut gemacht habe, seine Arien in ihre Programme aufzunehmen.

klassik-begeistert: Vermutlich kennen Millionen Menschen Deine Stimme, da Du 2006 am Soundtrack zu Das Parfum unter Sir Simon Rattle mitgewirkt hast. Ich hinke kinomäßig gern mal hinterher, sah den Film erst neulich und dachte: Ach ja, die Stimme kennst Du! Hat sie sich seither verändert, würdest Du sagen, und wenn ja: wie?

Chen Reiss: Ich denke, dass die Farbe meiner Stimme mehr oder weniger die gleiche geblieben ist. Allerdings hat sie an Volumen, Stabilität und Ausdrucksmöglichkeiten gewonnen, zumindest würde ich das gerne glauben! Das Singen macht mir heute auf jeden Fall mehr Spaß als damals. Ich fühle mich sicherer und wohler.

klassik-begeistert: Welche Deiner CDs empfindest Du als ganz besonders? Was möchtest Du unbedingt noch aufnehmen?

Chen Reiss: Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, denn sie sind ja alle irgendwie meine Kinder, und alle auch sehr unterschiedlich. Sie sind beileibe nicht perfekt, und vielleicht würde ich auch heute andere Entscheidungen treffen, aber ich denke, sie repräsentieren alle einen Teil von mir. Ich würde gerne mal eine Bach-CD aufnehmen. Bach ist mein Lieblingskomponist. Es ist sehr schwierig, ihn gut zu singen, da man als Sängerin in seiner Musik, sagen wir, sehr exponiert ist. Ich weiß nicht, ob ich jemals den Mut dazu finden werde.

Chen Reiss © Emmanuelle Lecerf_Vakaryn

klassik-begeistert: Ist man bei Bach „exponierter“ als beispielsweise bei Mozart?

Chen Reiss: Mozart ist natürlich auch nicht einfach, aber ich finde Bach noch dichter, instrumentaler; es scheint in seiner Musik nie einen guten Platz zum Atmen zu geben.

klassik-begeistert: Du hast inzwischen auch eine Gastprofessur an der Hochschule für Musik und Theater in München, und Du gibst Meisterkurse. Macht Dir das Unterrichten Freude? Lernst Du auch von Deinen Schülerinnen und Schülern?

Chen Reiss: Ich liebe das Unterrichten, es hat mir immer großen Spaß gemacht. Ich komme aus einer Familie von Musik- und Gesangslehrern. Meine Mutter und meine Schwester sind beide Musik- und Gesangslehrerinnen. Natürlich lerne ich jeden Tag von meinen Schülern. Ich lerne eigentlich von jedem Sänger. Man kann viel von guten Beispielen lernen, aber noch mehr von schlechten Beispielen… (lacht)

klassik-begeistert: Und es gibt da noch weitere Projekte, Du treibst Dich bisweilen in Frankreich herum.

Chen Reiss: So ist es. Zwei weitere Projekte im Jahr 2023 – und darüber hinaus – sind einerseits Sourire Music in Paris – das ist ein Verein, der junge Sängerinnen und Instrumentalisten durch Meisterkurse unterstützt und ihnen Möglichkeiten für Konzerte eröffnet. Da bin ich künstlerische Leiterin. Und dann gibt es noch die Holistic Voice Academy, ein einzigartiges und intensives Programm für Sängerinnen und Sänger, das mentales, körperliches und stimmliches Training umfasst. Ich leite dieses Programm in London und in einem Schloss an der Loire, dem Château de Vézins, zusammen mit Master Coach Gaëlle Deschamps.

klassik-begeistert: Kommen wir auf die Oper zu sprechen, liebe Chen. 2008 sah ich zum ersten Mal den Rosenkavalier in der herrlich-unverwüstlichen Inszenierung von Otto Schenk an der Wiener Staatsoper. Ein Jahr später erlebte ich Dich ebendort als Sophie, an der Seite von Camilla Nylund (Feldmarschallin) und Sophie Koch (Octavian). Es war ein bemerkenswerter Abend, zumal keine fünf Plätze von mir entfernt ein Freund saß, den ich vom Musikstudium in Dublin kannte und der eigentlich in Sydney lebt: small world! Welche Opernrollen möchtest Du unbedingt noch singen? Du hast ja auch hier ein ausgefalleneres Repertoire eingespielt, ich denke etwa an den Schreker mit Matthias Goerne unter Christoph Eschenbach…

Chen Reiss: Die Sophie liegt mir natürlich besonders am Herzen, und Richard Strauss ist ohnehin einer meiner Lieblingskomponisten. Ich möchte darüber hinaus so gern mal die Donna Anna, die Contessa, Ann Trulove, Poppea und Rosalinde singen, neben einigen weiteren. Und Schrekers Vom ewigen Leben ist einfach ein wunderbares Stück, das ich auch auf der Bühne mit großer Freude gesungen habe, und hoffentlich auch wieder singen werde.

klassik-begeistert: Chen Reiss als Contessa – ich werde da sein. Nun eine etwas langweilige Frage, sozusagen der Klassiker, manche Leute sind neugierig: Wie vereinbarst Du eigentlich ein so reges Leben als Sängerin on the road mit zwei kleinen Töchtern? Wobei… So klein ist Arielle gar nicht mehr, oder? Zehn Jahre? Die Zeit, sie ist wirklich „ein sonderbar’ Ding“!

Chen Reiss: Ich weiß es selber nicht, wie wir es überhaupt schaffen. Und ich sage ganz dezidiert „wir“, weil mein Mann eine große Rolle mitspielt. Allein wäre das überhaupt nicht möglich. Ich muss sagen: Das Organisieren im Voraus ist SEHR wichtig. Ich bin die ewige Planerin. Manchmal geht zwar auch etwas schief, aber ich kämpfe weiter! Meine Töchter sind sehr stolz auf mich, aber gleichzeitig wünschen sie sich natürlich, dass ihre Mama mehr zuhause bleibt. Man kann nicht alles haben, man kann nicht immer alle glücklich machen. Für mich ist es jedoch sehr wichtig, mit gutem Beispiel voranzugehen und meinen Mädchen und auch den Schülerinnen und Schülern zu zeigen, dass man eine erfolgreiche Karriere haben UND gleichzeitig eine gute Mutter und eine gute Partnerin sein kann.

klassik-begeistert: Liebst Du eigentlich alle Genres, in denen Du wirkst, gleichermaßen? Versuchst Du gar, die Liederabende, die Opernbühne und die Auftritte mit Orchestern ungefähr in Einklang zu halten?

Chen Reiss: Ich liebe alle Genres – ach, ich liebe einfach gute Musik! Bevor ich Mutter wurde, habe ich mehr Oper gesungen. Jetzt singe ich mehr Konzerte, da ich nicht über längere Perioden von zuhause weg sein möchte.

klassik-begeistert: Kurz vor Weihnachten hat das Kölner Publikum das Vergnügen, Dich mit dem Amsterdamer Concertgebouworkest (RCO) zu erleben. Seit ich es Mitte der 2000er mit Mariss Jansons erleben durfte (Mahlers Erste und Sechste), gestehe ich: Es ist mein absolutes Lieblingsorchester. Von allen tollen, die es so gibt. Du hast bereits im September 2016 mit Daniele Gatti Mahlers Zweite im Concertgebouw gemacht (auch davon gibt es eine CD), für die ich mit einem Musikfreund aus Köln angereist bin. Von Gattis Nachfolger, Klaus Mäkelä, der derzeit noch artistiek partner ist, bin ich bisher sehr angetan, nachdem ich ihn in etwa zehn, fünfzehn Konzerten erlebt habe. Erzähl doch bitte mal, wie es ist, mit diesem Orchester zu musizieren, mit Klaus Mäkelä, über Deine akustischen Erfahrungen im Concertgebouw – und bitte auch über das durchaus ungewöhnliche Repertoire, das Ihr in Köln macht. Von Fanny Hensels Hero und Leander habe ich noch nie gehört!

Chen Reiss: Ich hatte die schöne Gelegenheit, zwei Mahler-Sinfonien mit dem RCO zu singen, die Zweite und die Vierte, und beide Projekte sind absolute Höhepunkte meiner Karriere gewesen. Ich liebe den reichen Klang des Orchesters, sein sensibles Spiel und die unglaubliche Bandbreite an Dynamik. Und natürlich den Saal in Amsterdam. Die Akustik im Concertgebouw ist so wundervoll. Die größte Herausforderung dort sind die vielen steilen und berüchtigten Treppen – ich habe deswegen vorher schlaflose Nächte! Ich habe das Jahr 2023 mit Klaus Mäkelä in Wien begonnen und werde das Jahr mit ihm in Amsterdam abschließen…

klassik-begeistert: … die renommierte kerstmatinee am ersten Weihnachtstag…

Chen Reiss: Genau. Eine große Ehre, und seit 1975 eine echte Institution in Amsterdam. Dieses Jahr arbeiten Klaus und ich zum ersten Mal zusammen, und es ist mir eine sehr große Freude, ihn kennenzulernen und mit ihm zu musizieren. Er ist ein brillanter, energiegeladener und sehr inspirierender junger Dirigent. Ich bin auch dankbar, dass er Fannys sehr selten gespielte dramatische Szene Hero und Leander gewählt hat, ein Stück übrigens, das mich zu dem Schluss gebracht hat, dass sie – wäre sie ein Mann gewesen – eine Oper geschrieben hätte! Ich finde ihren Kompositionsstil gewagter und dramatischer als den ihres Bruders. Für mich steht Felix noch mit einem Bein in der Klassik, während Fannys Stil mich schon eher an Brahms oder konkret bei Hero und Leandersogar an Wagner erinnert.

Brian Cooper: Ich danke dir sehr herzlich für das Gespräch.

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Liebe Leser, wir laden Sie herzlich zum 2. Teil des Gesprächs mit Chen Reiss am Samstag, 16.12. 2023, hier auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at ein.

Interview mit der israelischen Sopranistin Chen Reiss – Teil 2 klassik-begeistert.de, 16. Dezember 2023

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