Zwischen Sieglinde und Brünnhilde kommt Tosca

Interview mit der polnischen Sopranistin Ewa Vesin  klassik-begeistert.de, 31. Oktober 2023

Ewa Vesin als Tosca an der Krakauer Oper 2022 © Opera Krakowska

Ewa Vesin studierte Gesang an den Musikhochschulen in Krakau und Wrocław. Anschließend verfeinerte sie ihre Fähigkeiten in einer Meisterklasse an der Yale University in den USA. Sie hat die Titelpartien in Moniuszkos „Halka“, Verdis „Aida“ und Bizets „Carmen“ gesungen. 2019 debütierte sie in Rom als Renata in Prokofjews „Der feurige Engel“ und M.me Lidoine in Poulencs „Dialogues des Carmélites“ sowie bei den St. Galler Festspielen als Maddalena di Coigny in Giordanos „Andrea Chénier“.

In der Spielzeit 2023/24 tritt Ewa Vesin als Turandot an der Deutschen Oper am Rhein auf. Die Partie der Tosca hat sie bereits an renommierten Opernhäusern gesungen, darunter Hannover, Toulon, Montpellier, Oslo, Prag und Warschau. Am 3. Oktober 2023 erleben wir sie in dieser Rolle an der Staatsoper Hamburg. Als Partner stehen der Sopranistin Young Woo Kim als Mario Cavaradossi und Andrzej Dobber als Baron Scarpia zur Seite. Die Aufführung steht unter der musikalischen Leitung von Paolo Carignani.

Das Gespräch mit der polnischen Sopranistin Ewa Vesin
führte 
Jolanta Łada-Zielke

klassik-begeistert: Frau Vesin, herzlich willkommen in Hamburg! Wir freuen uns darauf, Sie in der Rolle der Tosca zu sehen. Kann man in eine Routine verfallen, wenn man eine Partie so oft singt? Oder inspiriert Sie im Gegenteil jedes neue Theater, jede neue Inszenierung, diese Figur neu zu lesen?

Ewa Vesin: Ja, es ist eine neue Lesart, vielleicht nicht so sehr der Figur selbst, weil es hier wahrscheinlich nichts mehr zu entdecken gibt. Andererseits ist es sicherlich eine Wiederentdeckung der Partitur, jedes Mal mit einem anderen Dirigenten. Auch wenn wir als Solisten unsere Partien nach mehreren Dutzend Aufführungen ziemlich gut kennen, fällt uns immer wieder etwas Neues in der Partitur auf. Es sind häufig scheinbare Kleinigkeiten, selbst in einem Takt. Und dann merke ich plötzlich, dass ich vorher über eine gewisse Stelle nicht groß nachgedacht oder sie anders interpretiert habe. Der Dirigent fragt mich zum Beispiel: „Musst du an dieser Stelle atmen? Vielleicht sollten wir es als eine Phrase laufen lassen, um diesen Gedanken nicht zu trennen“. In Hamburg habe ich auch neue Einsichten. Ich finde die Zusammenarbeit mit Maestro Paolo Carignani hervorragend und freue mich bereits auf die Aufführung.

klassik-begeistert: Ich erinnere mich, wie Sie im Dezember 2019 im Theater an der Wien die „Halka“-Aufführung gerettet, indem sie die kranke Corinne Winters in der Titelpartie ersetzt haben.

Ewa Vesin: Ich muss sagen, dass ich die so genannten Jump-Ins und den damit verbundenen Adrenalinstoß sehr genieße. Außerdem liebe ich es auf der Bühne zu sein, weil es mich immer mit positiver Energie erfüllt. Am Tag vor diesem Auftritt rief mein Agent spät abends an und fragte, was ich jetzt tue. Und ich war gerade zu Hause in Wrocław und bereitete mich in aller Ruhe auf Weihnachten vor, machte polnische Teigtaschen „Uszka” und trank Rotwein. Der Agent sagte: „Dann geh mal schlafen, denn morgen früh fliegst du nach Wien, deine kranke Kollegin zu vertreten“. Die Flugreise, einschließlich einer Zwischenlandung in München, nahm den ganzen Tag in Anspruch. Ich landete um 18 Uhr in Wien und nahm sofort ein Taxi zum Theater. Dort habe ich eine Kleinigkeit gegessen, mich auf der Toilette eingesungen, mein Kostüm angezogen, mich blitzschnell schminken lassen und bin sofort auf die Bühne gegangen. Diese „Halka” war für mich eine unglaubliche Erfahrung. Ich habe damals eine ganz andere Art der Mobilisierung als bei einem geplanten Auftritt gespürt. An den Reaktionen der Zuschauer merkte ich, dass sie auch diese mobilisierende Energie empfanden, ebenso wie die Musiker des Orchesters, und der Dirigent Łukasz Borowicz, den ich schon seit Langem kenne.

klassik-begeistert: Sie schienen mit jenem Bühnenbild vertraut zu sein.

Ewa Vesin: Ich singe Halka seit Jahren, und in der folgenden Saison sollte ich in dieser Inszenierung im Teatr Wielki in Warschau auftreten. Ich nahm an drei oder vier Proben teil und sah, wie Mariusz Treliński die Bühnentopographie aufbaute. Den ersten und zweiten Akt hatte ich mehr oder weniger im Gedächtnis, aber am Schluss musste ich improvisieren. Alles lief jedoch gut, auch dank der Hilfe meiner KollegInnen und der Inspizienten, die mich vom Eingang bis zum Ausgang begleiteten und unterwiesen, was ich tun sollte.

Ewa Vesin als Tosca an der Opéra de Toulon © Kevin Bouffard

Klassik-begeistert: 2019 sangen Sie Renata in Prokofievs „Der feurige Engel” in Rom. Man sagt, dies ist keine Oper für schwache Nerven.

Ewa Vesin: Das stimmt. Die Arbeit an diesem Stück während der fünf Probenwochen war mühsam und anstrengend. Nicht nur, weil das musikalische Material schwer auswendig zu lernen, zu analysieren und zu singen, sondern auch, weil der Inhalt dieser Oper sehr düster ist. Davor hatte ich noch den gleichnamigen Roman von Valery Briusov gelesen. In dieser Vorstellung bin ich während allen fünf Akten ständig auf der Bühne.

Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor so intensiv gearbeitet und so viel emotionale Erschöpfung erlebt habe. Später, im Jahr 2020, haben wir „Der feurige Engel“ am Teatr Wielki in Warschau unter der Regie von Mariusz Treliński aufgeführt. Das war genau zu Beginn der Coronavirus-Pandemie, von der wir noch nichts mitbekamen. Mehrere von uns haben sich unbewusst von einem Kollegen anstecken lassen, der gerade aus Wuhan zurückgekehrt war. In Trelińskis Inszenierungen ist eine Vertretung nicht möglich, also spielte ich mit vierzig Grad Fieber auf der Bühne, während eine andere Solistin hinter der Kulisse für mich sang. Ich will eine solche Situation nie mehr erleben.

klassik-begeistert: Bei den Sankt Galler Festspielen haben Sie Maddalena di Coigny in „Andrea Chénier” von Umberto Giordano gespielt. Man führt diese Oper nicht oft auf, obwohl sie musikalisch interessant ist, besonders der letzte Akkord, bei dem das Schlagzeug die fallende Klinge einer Guillotine nachahmt.

Ewa Vesin: „Andrea Chénier“ ist eine veristische Oper, wie bei Werken von Puccini und Mascagni. In der Tat, jede Szene lässt sowohl uns Solisten als auch Zuschauer erschaudern. Jede Arie, jedes Duett, jedes Ensemble ist so unglaublich emotional dicht, dass es eine große Freude macht, das alles aufzuführen und zu rezipieren. In Sankt Gallen habe ich zum ersten Mal die Maddalena gesungen. Dies sollte ich vorher in Chile tun, man sagte aber das Projekt wegen der Pandemie ab. Also hatte ich keine Gelegenheit, diese Rolle in einem Theater vorzubereiten. Und die Bedingungen bei solchen Festivals wie in Sankt Gallen sind speziell.

Wir traten unter freiem Himmel auf, das Orchester war ein paar hundert Meter von uns entfernt, und der Klang kam aus Lautsprechern. Man musste sich auf die Handbewegung des Dirigenten einstellen, die wir mit zig Verzögerung auf der Leinwand sehen konnten. Bei der Aufführung veristischer Musik hingegen ist der ständige Kontakt unter Solisten, Dirigent und Orchester sehr wichtig. Es ist schwieriger für uns, bestimmte Emotionen aufzubauen, wenn wir uns mehr auf die technischen Aspekte konzentrieren müssen. Ich würde gerne die Maddalena wieder singen, aber in einem „normalen” Theater.

klassik-begeistert: Sie bereiten sich jetzt auf die Rolle der Brünnhilde in „Die Walküre“ vor. Wo und wann können wir Sie darin sehen?

Ewa Vesin: Es werden zwei konzertante Aufführungen am Teatro Comunale di Bologna unter der Leitung von Oksana Lyniv sein, die dort Generalmusikdirektorin ist. Ich habe Turandot bereits in Rom mit dieser Maestra gesungen, und dieser Vorschlag kam von ihr. Eigentlich habe ich darauf gewartet, weil ich recht früh angefangen habe, Wagner zu singen. Im Alter von 27 Jahren sang ich die Sieglinde an Opera Wrocławska. Ich schloss mein Studium als Mezzosopranistin ab und schwankte zu Beginn meiner Karriere zwischen Mezzosopran und dramatischem Sopran, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, an dem ich für einen davon entscheiden musste.

Aber meine erste ernsthafte Sopranrolle war tatsächlich die Sieglinde, obwohl ich damals eine junge Sängerin war, die gerade Erfahrungen sammelte. Ich habe schöne Erinnerungen aus dieser Zeit, weil wir „Der Ring” für mehrere Spielzeiten vorbereiteten. Ich habe darin alle möglichen Sopranpartien gesungen, vom Waldvogel bis zu Gutrune, kenne also den ganzen Zyklus sehr gut. Ich trat auch als Venus in „Tannhäuser” auf, aber ich halte Brünnhilde für eine Krönung des Repertoires vom dramatischen Sopran. An diesem Punkt in meinem Leben kann ich mir dieser Rolle ruhig und bewusst beibringen. Das macht mich sehr glücklich.

Ewa Vesin als Tosca und Mickael Spadaccini als Cavaradossi in Teatr Wielki Opera Narodowa in Warschau © Opera Narodowa

klassik-begeistert: Welches ist Ihre liebste Rolle, die am besten zu Ihrer Persönlichkeit passt, so dass Sie nicht viel daran arbeiten müssen?

Ewa Vesin: Es ist ja nicht so, dass ich an einer Rolle nicht arbeiten müsste. Aber je öfter ich eine Partie singe, und zwar über mehrere Spielzeiten hinweg, desto leichter fällt es mir, wieder hineinzukommen. Ich habe die Turandot zum Beispiel noch nicht so lange wie die Tosca gesungen. Deshalb brauche ich bei Turandot mehr Konzentration und Engagement. Jedenfalls sind die ersten zwanzig Minuten dieser Partie sehr anstrengend, man muss mit höchster Konzentration singen.

klassik-begeistert: Sie haben auch Management an der Universität Warschau studiert. War diese Kombination aus künstlerischer Karriere und Managementfähigkeiten von Anfang an Ihr Ziel?

Ewa Vesin: Ich wollte schon immer eine Bildungsarbeit leisten und in meiner Heimatstadt Lublin Spuren hinterlassen. Also beschloss ich, dort einen internationalen Gesangswettbewerb zu veranstalten. Um das zu verwirklichen, brauchte ich ein Minimum an Grundkenntnissen darüber, wie man ein solches Event führt. Deshalb habe ich ein Management-Studium absolviert. Das machen heute viele Künstler, wahrscheinlich weil sie nicht ahnen, wie lange ihre Karriere dauern wird. Der Moment, in dem wir die Bühne verlassen, ist ein großes Fragezeichen für uns. Die Zahl der Musikhochschulen ist begrenzt, so dass nicht jeder eine Anstellung als Pädagoge finden kann. Und die meisten Künstler sind Berufstätige, weil wir ständig arbeiten, reisen und den Kontakt mit Menschen genießen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich in zehn Jahren meine Zeit nur in einem Sessel mit einem Buch verbringen könnte. Daher dieses Studium, nach dem Wunsch, mich ständig weiterzuentwickeln und Grenzen zu überwinden. So entstand die Idee des Gesangswettbewerbs Opera Masterclass, benannt nach Antonina Campi geb. Miklaszewicz (1773-1822). Sie war die erste polnische Sängerin, die eine internationale Karriere gemacht hat. Mit einem Freund von mir entwarfen wir ein Projekt und beteiligten uns an einem Wettbewerb, den das Zentrum für Begegnung der Kulturen in Lublin organisierte. Und wir hatten Erfolg.

klassik-begeistert: Welche Bedeutung hat dieser Wettbewerb für junge SängerInnen?

Ewa Vesin: Er wird bereits zum vierten Mal stattfinden. Für das erste Vorsingen bewerben sich Kandidaten aus der ganzen Welt. Dabei spielt auch die Lage Lublins im Ostpolen eine Rolle, denn für viele Teilnehmer sind wir eine Art „Tor zum Westen“. In den letzten Jahren haben viele SängerInnen aus östlichen Ländern daran teilgenommen. Es gibt mehrere Gesangswettbewerbe in Polen, wir wollen jedoch keine Konkurrenz dem Moniuszko-Wettbewerb machen; hier wären wir bereits aus finanziellen Gründen aus dem Rennen. Aber wir versuchen, im Rahmen der uns zur Verfügung stehenden Mittel so effektiv wie möglich zu arbeiten. Wir setzen nicht auf Quantität, sondern auf Qualität, vor allem was die Jury betrifft.

Für junge SängerInnen ist es sehr wichtig, wer sie beurteilt. Einige Wettbewerbe finden auf der Hochschulebene statt, und dort sitzen Gesangspädagogen in der Jury. Junge Menschen, die noch studieren, müssen an solchem Vorsingen teilnehmen, dieses hat aber internen Charakter. Wir laden Intendanten von Opernhäusern und Vertreter internationaler künstlerischer Agenturen ein, der Jury beizutreten. Dies ist quasi ein erstes Vorstellungsgespräch für junge Künstler. Nicht nur die Gewinner bekommen Jobangebote. Es kommt oft vor, dass jemand solche Chance erhält, der zwar den ersten Preis nicht gewonnen, sein Auftritt hat aber einen Agenten angesprochen. Ein Beispiel dafür ist Paweł Trojak, der nach der Teilnahme an unserem Wettbewerb an die Lyric Opera in Chicago ging, wo er seine Ausbildung im Opernstudio fortsetzte. Jetzt arbeitet er an der Oper in Lyon. Daraus folgt, dass man nicht immer einen Wettbewerb gewinnen muss, aber es lohnt sich auf jeden Fall, daran teilzunehmen.

klassik-begeistert: Das Leben eines Opernsängers ist ein ständiges Reisen. Wie verbringen Sie Zeit mit Ihrer Familie, wenn Sie nach Hause kommen?

Ewa Vesin: Sehr intensiv. Ich bin ganz in meine Arbeit vertieft, aber wenn ich nach Hause komme, bin ich die Ehefrau und Mutter. Ich koche Suppen, mache Koteletts und putze. Wenn die Freunde anrufen, um mit uns auszugehen, entschuldige ich mich bei ihnen und sage, dass jetzt meine Zeit der Familie gehört. Meine Tochter ist bereits erwachsen und studiert in Warschau, aber sie versucht immer nach Hause zu kommen, wenn auch ich da bin. Ich habe noch einen 14-jährigen Sohn, auf den sich meine Aufmerksamkeit ebenfalls richtet.

klassik-begeistert: Herzlichen Dank für das Gespräch. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg!

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