Foto: Hans-Jürg Strubs neue CD mit Schuberts Klaviersonaten D 959
und D 960
Pianist und Pädagoge ist er bereits. Ein Zeitreisender wäre er gerne. Weshalb, das erzählt Hans-Jürg Strub, der vor kurzem bei ARS Produktion eine CD veröffentlicht hat, im Interview mit Klassik-begeistert. Der gebürtige Schweizer hat sich Schuberts letzten beiden Klaviersonaten angenommen. Mit ihren vielen Brüchen, Bezügen und den weitgefassten Spannungsbögen eine Herausforderung für jeden Pianisten. Dabei kommt Strub, wie er erzählt, vor allem seine lange Beschäftigung mit Schubert zugute.
von Jürgen Pathy
Klassik-begeistert: Was sind die ersten drei Worte, die Ihnen einfallen, um Franz Schuberts letzte drei Klaviersonaten zu beschreiben?
Hans-Jürg Strub: Ehrlich gesagt, ist es mir nicht möglich. Was mir zu den letzten Schubert-Sonaten einfällt, ist nicht auf drei Worte „herunterzubrechen“. Es handelt sich um einen ganzen Kosmos: größte Helle, tiefste Dunkelheit; kantable Versenkung und Zartheit, dann wieder tiefste Resignation und seelischer Abgrund.
Klassik-begeistert: Zwei dieser Sonaten haben Sie nun auf CD eingespielt. Die Sonate in A-Dur D 959 und die Sonate in B-Dur D 960. Wieso haben Sie sich gerade für diese beiden entscheiden? Weshalb überhaupt Schubert, obwohl wir uns im Beethoven-Jahr befinden?
Hans-Jürg Strub: Schon sehr lange beschäftige ich mich mit Schubert, schließlich verdichtete sich das Projekt der Schubertwerke von 1828 – da gibt es vielleicht noch eine Fortsetzung mit der c-Moll Sonate und den 3 posthumen Klavierstücken aus eben diesem Jahr. Dass die Aufnahme gerade im Beethoven-Jahr erschienen ist, war nicht extra geplant.
Klassik-begeistert: Das Andante der B-Dur Sonate D 960 klingt sehr interessant. Ihre Interpretation hebt sich deutlich von vielen anderen ab, die ich gehört habe. Überhaupt in der linken Hand. Beinahe tröpfelnd, langsamen Schrittes bewegt sich die Melodie zu Beginn voran. Was läuft bei Ihnen im Kopf ab, wenn Sie diese Musik spielen? Was möchten Sie uns sagen?
Hans-Jürg Strub: Der Melodiebogen dieses Andante sostenuto schafft eine Atmosphäre von Klage und Resignation. Besonders unterstrichen wird das von den Bassfiguren, die als rhythmisches Motiv an das Heine-Lied „Der Atlas“ D 957 aus dem Schwanengesang erinnern („Ich unglückselger Atlas! Die ganze Welt der Schmerzen muss ich tragen“). Hier erscheinen diese Figuren zwar viel körperloser, untermauern aber – wie im C-Dur Streichquintett – eine Unerbittlichkeit des Geschehens.
Klassik-begeistert: Ebenso erwähnenswert ist Ihre Interpretation des Andantinos der A-Dur Sonate D 959. Beim Hören habe ich mich gefühlt, als würde ich nicht nur in Schuberts Sphären wandeln, sondern auch in Johann Sebastian Bachs. Woran liegt das?
Hans-Jürg Strub: Bei manchen Arien Bachs gibt es eine verwandte Grundstimmung. Die klagende Melodie ist über eine archaische Bassfigur gelegt – größte Schlichtheit und doch gleichzeitig ergreifend.
„Tatjana Nikolayeva hat mich enorm bereichert“
Klassik-begeistert: Tatjana Nikolayeva, die große russische Pianistin und Bach-Interpretin, habe Ihren Stil „prägend“ beeinflusst, sagen Sie. Inwiefern wurden Sie von ihr beeinflusst? Was konnten Sie von ihr mitnehmen? Liegt es vielleicht auch daran, dass bei Ihrer Schubert-Aufnahme der Geist Johann Sebastian Bachs immer wieder präsent ist?
Hans-Jürg Strub: Tatjana Nikolayeva war eine starke Persönlichkeit – und – ja, sie hat sich besonders mit Bach auseinandergesetzt und gelangte in ihrem Bach-Spiel zu überzeugenden Interpretationen von ausdrucksvoller, kantabler und tief ernsthafter Polyphonie. Mich hat sie aber anderweitig beeinflusst.
Dazu muss ich etwas ausholen: Bei meinem damaligen Professor Hans Leygraf habe ich in Hannover ein gutes „Handwerk“ gelernt – Handwerk im besten Sinne. Nicht nur was man im Allgemeinen unter „Technik“ versteht (schnelle Finger, keine falschen Töne), sondern differenzierten Anschlag, bewusste Tongebung, Klanggestaltung; weiter Textanalyse, Form und so weiter. Kurz: Alles was sich rein aus dem vorliegenden Text, den Noten, ergeben kann. Oder was daraus – und besonders wie es – zu lesen ist. Das ist eine Grundlage, die ich nicht missen möchte!
Nun gab es den Einschlag von Nikolayeva, welche – ganz anders – sehr viel mit Bildern unterrichtete. Sozusagen einer Vorstellung, die nicht direkt aus dem Text kommt. Dies hat mich ungeheuer bereichert; und ich bin überzeugt, dass nur eine Kombination von beidem zu musikalisch überzeugenden Resultaten führt.
Klassik-begeistert: Sie sind selbst Pädagoge. Was versuchen Sie Ihren Schülern zu vermitteln? Was ist das Wichtigste, das Sie den jungen Pianisten mit auf deren Weg geben möchten?
Hans-Jürg Strub: Ja, die pädagogische Arbeit mit jungen Musikern ist eine Leidenschaft. Ich habe schon in meiner vorherigen Antwort auf die Wichtigkeit des Klavier-Klanges hingewiesen. Also lege ich größten Wert auf differenzierte Anschlagstechnik und bewusste Klanggebung. Das Bewusstsein über die Gestaltung der Musik ist die Grundlage für jeden jungen Pianisten, zuerst zu einer eigenen Vorstellung und dann zu einem persönlichen Ausdruck zu finden. Das Ziel ist, die Absicht des Komponisten in Klang, Struktur – letztlich alles zusammengefasst – im Ausdruck zu erfassen, zu erfühlen und damit die Musik zum Sprechen zu bringen.
Klassik-begeistert: Wie würden Sie sich selbst beschreiben? Ihre Person, Ihren Charakter. Muss man einen bestimmten Charakterzug aufweisen, um sich in die unendlichen Tiefen der Schubert‘ schen Klaviersonaten zu werfen?
Hans-Jürg Strub: Schubert spricht das innere Wesen des Menschen besonders an. Um sich dafür zu öffnen, müssen die Zwänge des geschäftigen, individuellen Alltagsbewusstseins hinter sich gelassen werden. Man muss zurücktreten – in die Stille –, man muss geschehen lassen können. Letztlich müssen auch alle Vor-Stellungen abgeworfen werden. Vielleicht lässt es der Genius dann zu, zum Medium der Musik zu werden. Das gilt aber für viele Komponisten – nicht nur für Schubert.
Klassik-begeistert: Gibt es einen besonderen Moment, auf den Sie unheimlich stolz sind, für den Sie sich schämen oder der Sie vom Hocker gehauen hat? Ein Erlebnis, das Sie niemals vergessen werden – egal, ob privat oder als Musiker?
Hans-Jürg Strub: Geschämt habe ich mich besonders in der Jugend; das ist dann glücklicherweise besser geworden. Aber viele Erlebnisse haben mich begeistert – Erlebnisse, wo die Zeit still steht. Da fallen mir einige Live-Konzerte von Radu Lupu ein; auch von Sviatoslav Richter. Oder wie ich als kleiner Junge das erste Mal das dritte Scherzo von Chopin im Radio mit Rubinstein hörte…
Klassik-begeistert: Der coronabedingte Lock-Down zwingt viele Künstler und Musiker in die Knie. Wie beurteilen Sie die Situation? Können Sie ihr auch etwas Positives abgewinnen? Wie motivieren Sie Ihre Schüler, damit diese dennoch den steinigen Weg des Musikers weitergehen?
Hans-Jürg Strub: Ja, die momentane Corona-Situation spiegelt in erschreckender Weise das materialistische Denken unserer Zeit. Die Einteilung des menschlichen Berufes in „für das System relevant“ oder „irrelevant“ hat etwas Absurdes, Unmenschliches. Dieses Denken reduziert das Mensch-Sein auf reine Kausalität – auf das Nur-Notwendige. Ist das der Mensch? Will er das sein? Ameisen oder Delfine haben auch ein differenziertes und komplexes Lebenssystem. Aber das typisch Menschliche ist der künstlerische Ausdruckswille und die wunderbare Möglichkeit zur schöpferischen Gestaltung. Natürlich ist dieser Weg immer steinig – schon immer gewesen und wird es immer sein. Aber es ist gerade das, was für den Menschen als geistiges Wesen relevant ist. Ich bin überzeugt, das ist für den Musiker Motivation genug!
Klassik-begeistert: Angenommen, es erscheint eine gute Fee. Diese erfüllt Ihnen drei Wünsche. Welche wären das?
Hans-Jürg Strub: Ich habe mir immer gewünscht, einmal auf einen Knopf drücken zu können, und ich wäre augenblicklich in einem Raum, wo Bach spielt – oder Mozart ein Konzert gibt – oder Chopin – oder… Ich sollte mir besser gleich eine Zeit-Maschine wünschen!
Interview: Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 16. Dezember 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at