Roy Harris’ 3. Sinfonie – ein Meisterwerk begeistert

Isabelle Faust, Violine, London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, Dirigent   Dortmund, Konzerthaus, 6. März 2024

Sir Simon Rattle, Isabelle Faust & London Symphony Orchestra © Bjørn Woll

Isabelle Faust, Sir Simon Rattle und das LSO mit Brahms und US-amerikanischem Repertoire in Dortmund.

 Johannes Brahms (1833-1897) – Violinkonzert D-Dur op. 77 (1878)

Roy Harris (1898-1979) – Sinfonie Nr. 3 (1939)

John Adams (*1947) Frenzy (2023; dt. Erstaufführung)

George Gershwin (1898-1937) – Ouvertüre Strike Up the Band (1927/30, Fassung von Don Rose)

Isabelle Faust, Violine
London Symphony Orchestra
Sir Simon Rattle, Dirigent

Konzerthaus Dortmund, 6. März 2024

von Brian Cooper, Bonn

Was macht man, wenn das Publikum schon ins Dortmunder Konzerthaus eintrudelt, Teile des Orchesters jedoch noch in der Luft sind, oder gerade gelandet, und das in Düsseldorf?

Ganz einfach, und so typisch für die Dortmunder Spontaneität: Der Empfang im Eingangsfoyer, ursprünglich für hinterher gedacht, wird kurzerhand vorverlegt; Dirigent, Orchestermanagerin und Intendant plaudern übers Programm, wobei sich Letzterer als bemerkenswert talentiert im Konsekutivdolmetschen erweist; und nach über dreistündiger Verspätung des Fliegers – Landung gegen 18:30h statt um 15:30h – sind dann auch um kurz vor neun alle Mitglieder des London Symphony Orchestra (LSO) vollzählig.

Unter solchen Umständen ist erstaunlich, von welcher Güte das letzte der insgesamt neun Konzerte der dreijährigen Dortmunder LSO-Residency war. Simon Rattle ist nicht mehr Chef; der designierte Neue, Antonio Pappano, war im vergangenen Oktober gleich zweimal am Konzerthaus; und dennoch ist es Sir Simon, der diese ein-Konzert-Tournee leitet. Was für ein Stress. Und dann keine Anspielprobe.

Das Konzert findet nun ohne Pause statt, los geht’s mit üppigem Breitwandsound. Endlich mal wieder das Violinkonzert von Brahms, live! Die etwa 70 Musikerinnen und Musiker (6 Bässe) legen Isabelle Faust einen klangkuscheligen Teppich aus, auf dem sie sicheren Schrittes agieren kann. Seien es ruppig angerissene Akkorde (erster Satz), schönste Kantilenen im Adagio oder atemberaubend sichere Läufe im letzten Satz: Die „Dornröschen“-Stradivari klingt unter den Händen der Wahlberlinerin wundervoll. Ungewöhnlich, dass sie ein Notenpult vor sich hat.

Sir Simon Rattle, Isabelle Faust & London Symphony Orchestra © Bjørn Woll

Leise Stellen klingen mitunter herrlich fahl. Einwände muss man allerdings erheben gegen manch laute Passage: Nicht immer kommt die Geige durch, und das liegt nicht an der Solistin. Deren Kadenz im ersten Satz – erst von einem langen Paukenwirbel begleitet, dann von den Streichern – ist mir gänzlich unbekannt. Es könnte jene von Busoni sein; die gängige von Joseph Joachim ist es nicht.

Vorzüglich klangen die Holzblasinstrumente. Nicht nur das große Oboen-Solo im zweiten Satz (Olivier Stankiewicz) und immer wieder das Leuchten der Flöte von Gareth Davies – wirklich alle spielten prächtig auf. Das Publikum erhob sich schon zur „Pause“, obwohl es erst im amerikanischen Teil so richtig klasse werden sollte.

Und das lag auch an der Wahl der Werke. Die 3. Sinfonie von Roy Harris kenne ich nur durch Zufall, denn sie ist in der opulenten Symphony Edition mit Leonard Bernstein und dem New York Philharmonic enthalten. Bernstein wie Rattle waren bzw. sind der Meinung, dass es sich um ein Meisterwerk handelt, und nach dem Live-Erlebnis stimme ich uneingeschränkt in die Lobeshymne ein. Zumal, wenn das Werk so gespielt wird wie in Dortmund! Rattle hatte im Vorgespräch hinzugefügt, er finde nicht alles von Harris meisterlich, aber die Dritte sei durchaus „one of those rare unknown masterpieces“.

Das Werk beginnt in Dur und endet in Moll. Celli und Bratschen eröffneten es mit unglaublich dicht-drängendem Schönklang. Erreicht man die Stelle, an der das tiefe Blech – Posaunen und zwei (!) Tuben – loslegt, lehnt man sich zurück und denkt, ja, das ist die amerikanische Weite in Musik. Das gilt insbesondere für den fugenartigen Teil, wo Blech, Schlagwerk und Pauken interessanteste Klangfarben erzeugen. Großzügiger Applaus für ein starkes Stück! Stark dargeboten war’s allemal.

Sir Simon Rattle, Isabelle Faust & London Symphony Orchestra © Bjørn Woll

Auch das folgende Werk wurde mit Ovationen bedacht. Ganz sicher ist das ein Indiz für die Offenheit und Begeisterungsfähigkeit des Dortmunder Publikums gegenüber Neuem. Aber John Adams kann man sich gut anhören, so ultrakomplex seine Musik in vielen Details auch sein mag. Die Mischung macht’s: Die Komplexität stimuliert den Geist, das Fetzige das Herz, und die üppige Meisterschaft in der Beherrschung des Orchesterapparats stimuliert irgendwie auch den Bauch.

Frenzy, gerade mal drei Tage zuvor uraufgeführt und von etwa zwanzig Minuten Dauer, beginnt mit zackig-nervösen Klängen, es gibt einen ruhigen Mittelteil, aber zumeist schwirrt der Puls verdammt schnell. Simon Rattle ordnete beeindruckend das vermeintliche Chaos. Er und Adams kennen sich seit etwa 35 Jahren, den fantastischen Fünfminüter Lollapalooza schrieb Adams schon zu Rattles 40. Geburtstag. Was für ein Geschenk!

Sir Simon Rattle, Isabelle Faust & London Symphony Orchestra © Bjørn Woll

George Gershwins Ouvertüre Strike Up the Band war ein perfekter Rausschmeißer. Die Charmekanone zündete, in einen üppig-buttrigen Broadway-Sound mündend. Noch immer hat Rattle ein großartiges Händchen für diese Musik, amerikanische im Allgemeinen und Gershwin im Besonderen, wie sein frühes Jazz-Album, die Bernstein-Musicals wie Wonderful Town und vor allem die grandiose Berliner Aufführung von Porgy & Bess im September 2012 belegen. Toller Abschluss einer Residency, an die man sich ähnlich lange erinnern wird wie an „The Yannick Experience“. Intendant von Hoensbroech überreichte Sir Simon höchstpersönlich einen wunderschönen Blumenstrauß, den allerdings auch die Solistin des Abends verdient hätte.

Dr. Brian Cooper, 7. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Yuja Wang, Koninklijk Concertgebouworkest, Klaus Mäkelä, Dirigent Konzerthaus Dortmund, 26. September 2023

BSO Andris Nelsons, Dirigent, Jean-Yves Thibaudet, Klavier Konzerthaus Dortmund, 4. September 2023

Saverio Mercadante, IL GIURAMENTO Konzerthaus Dortmund, 3. Juni 2023

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