Jakub Hrůša, Photo Andreas Ströbl
Tschechischer geht es nicht – schon bei den ersten Takten des berühmten, in Amerika komponierten Konzerts für Violoncello und Orchester von Antonín Dvořák war klar: Sooft man diese Musik auch gehört hat, mit solch wunderbarer Wärme und leidenschaftlichem Engagement wie am 21. August 2024 im Großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie erklang sie wohl selten.
Antonín Dvořák, Konzert für Violoncello und Orchester h-Moll op. 104
Josef Suk, Symphonie c-Moll op. 27 „Asrael”
Jakub Hrůša, Dirigent
Sheku Kanneh-Mason, Violoncello
Tschechische Philharmonie
Elbphilharmonie, Hamburg, 21. August 2024
von Dr. Andreas Ströbl
Die Tschechische Philharmonie unter ihrem Dirigenten Jakub Hrůša dürfte der geeignetste Klangkörper sein, um diese klangfarbenreiche Musiksprache angemessen wiederzugeben. In größtmöglicher Harmonie schmiegte sich der junge britische Cellist Sheku Kanneh-Mason in das Orchester ein und machte so das Konzert zu etwas in dieser Art im besten Wortsinne Unerhörtem.
Den heroischen Duktus des ersten Satzes gaben die Musiker mit kraftvollem Ausdruck wieder, aber bei aller zwischenzeitlich aufschäumender Dramatik behielt das Ganze doch einen ausgesprochenen Wohlfühl-Charakter, zumal in den lyrischen Passagen. Dazu trug vor allem das seelenvolle Spiel Kanneh-Masons bei, der die Emotionalität des Konzerts völlig verinnerlicht hatte.
Zuweilen sah er bei seinem auswendigen Vortrag auf sein würdiges, über 300 Jahre altes Instrument, aber meist blickte er in die Luft, als hätte Dvořák die Partitur in den Himmel geschrieben; in seiner Mimik spiegelten sich all die Empfindungen und Wendungen der Musik, ohne dass dies auch nur einen Augenblick lang Posen-artig gewirkt hätte. Eher entstand der Anschein, als sei der Musiker dem Werk gänzlich ausgeliefert und sein Inneres würde von den ihm innewohnenden Gemütsbewegungen zutiefst bewegt.
Der Applaus nach diesem Satz war zu verzeihen, weil das Publikum schlichtweg hingerissen war. Zumindest zerstörte der Beifall nicht den Gesamteindruck des Konzerts.
Dis Kantabilität des zweiten Satzes erfuhr durch das feinnervige Spiel des Cellisten innigsten Ausdruck. Kanneh-Mason schaffte es mühelos, von einem butterweichen Strich mit feinster Sanftheit zu einem entschiedeneren Ton zu wechseln. Es war wie in einer gesungenen Erzählung, in der sich, je nach Thema, der Vortrag mal zärtlich, mal etwas rauher anhört, ohne dass sich die Grundaussage völlig verändert. Wie Waldvöglein schwebten die Flöten über der orchestralen Klanglandschaft und schienen das Cello flatternd zu umspielen. Eine anmutige Sanftheit wurde durch die Holzbläser intoniert, mit einem kleinen Gruß an die eigene „Symphonie aus der Neuen Welt“.
Freude auf die lockende Heimat durchzieht den dritten Satz mit seiner rhythmisch anspruchsvollen Melodieführung und schließlich mündet alles in einen wundervollen Dialog zwischen Cello und erster Geige. Hier gab es einen lächelnd-freundlichen Blickkontakt zwischen den beiden Musikern, die perfekt miteinander harmonierten. Aus sanftesten Trillern erhob sich endlich das Crescendo zum Finale, das wie ein Adler in die Lüfte stieg.
Nach begeistertem Applaus war selbstverständlich eine Zugabe fällig, bei der sich Kanneh-Mason für ein Bob Marley-Lied entschied. Dazu zupfte er die Cellosaiten wie bei einer Gitarre und in liebkosender Sanftheit erklang „She used to call me Dada“, ganz neu interpretiert. Nach der Pause setzte sich der umjubelte Musiker völlig unprätentiös in den Saal und man konnte mit ihm plaudern oder sich ein Autogramm geben lassen. Was für eine sympathische, natürliche Escheinung!
Es folgte harte Kost, denn schon rein inhaltlich geht es in der „Asrael“-Symphonie des Schwiegersohnes von Dvořák, Josef Suk, um den Tod. Asrael ist im Islam der Name eines Engels, der die Seelen der Verstorbenen zu Gott bringt, aber der Name ist hebräisch und bedeutet „Der, dem Gott hilft“.
Suk hatte während der Komposition keine Ahnung davon, wie hart der Flügelschlag des düsteren Engels ihn treffen würde, denn seine geliebte Ehefrau Otilie starb, als er die ersten drei Sätze entworfen hatte. Die ganze Symphonie ist voller Dvořák-Zitate, die sich als ehrenden Gruß an den 1904 gestorbenen Schwiegervater verstehen, aber nach dem Tod „Otilkas“, wie er sie liebevoll nannte – nur ein Jahr später – schlug Suk einen anderen, pessimistischeren Ton an.
Es ist ein Wunder, dass er das Werk überhaupt noch beenden konnte, was jeder versteht, der entweder das Zentrum seines Lebens verloren hat oder nahe daran war. „Ein solcher Schlag vernichtet den Menschen entweder oder treibt alle Kraft an die Oberfläche, die in ihm ruht. Mich schien das Erste zu treffen, aber die Musik rettete mich“, schrieb Suk in der Retrospektive.
Nicht umsonst hat Jakub Hrůša diesen Komponisten den „tschechischen Mahler“ genannt, denn es klingt hier viel an von dem anderen großen Böhmen aus dem kleinen Kalischt. Vor allem sind es die mächtigen Linien mit einem schmerzlichen Unterton und die reiche Instrumentierung des großen Orchesters, die an den nur 14 Jahre älteren Mahler erinnern, aber auch die Harfen mit dunklen Tönen hat man in ähnlicher Weise bei ihm gehört.
Keinesfalls soll Suk hier allerdings Epigonentum unterstellt werden, denn die Symphonie ist absolut eigenständig und nach dem ersten Hören kaum zu beschreiben, so gewaltig und vielschichtig weht der düstere Hauch aus diesem „Werk übermenschlicher Kraft“, wie Suk selbst es bezeichnet.
Die sechs sehr unterschiedlichen Sätze sind ein großer Trauergesang, über dem die ganze Unbarmherzigkeit des Todes zusammenschlägt. Aber es gibt auch intimere Passagen, die gerade im Andante die Solovioline intoniert; zuweilen scheint das Instrument zu flehen. Nach der intensiven Expressivität der ersten drei Sätze prägt die letzten beiden eine eher beruhigtere Gangart, die aber dennoch von emotionalen Ausbrüchen erschüttert wird. Tatsächlich endet das Vivace, der dritte Satz, finalartig, weswegen es Beifall gab.
Wie zuvor beim Cellokonzert war dieser gerade noch zu verschmerzen, denn ansonsten machte der Taktstock des Dirigenten klar, wann Ruhe zu herrschen hat und die Übergänge waren so rasch vollzogen, dass keine Zweifel verblieben. Das in der „Elphi“ übliche Umherlaufen beschränkte sich diesmal auf wenige Personen, auch zappelige Kinder gab es kaum. Aufkeimendes, zu frühes Klatschen beantwortete der Dirigent mit erhobenen Armen, viele Sekunden lang.
Bei Hrůšas Dirigat fiel einerseits eine enorme Wendigkeit und Differenziertheit in den Einsätzen auf, Mimik und Körpersprache folgten dem musikalischen Duktus von Gemessenheit bis zu einem Aus-sich-Herausgehen, ohne dass dies wie eine Show gewirkt hätte. Leiter und Orchester sind ganz offensichtlich eine organische Einheit; das Zusammenspiel machte einen hochkonzentrierten und routinierten Eindruck, was aber der überaus engagierten Wiedergabe der fülligen Wärme und der heftigen Empfindungen keinen Abbruch tat. Präzision und Perfektion bedeuten nicht zwingend einen Verlust an Emotionalität, sondern vermitteln die intensivsten Gefühle in unmittelbarer Drastik – wenn man so spielt wie die Tschechische Philharmonie.
Bei aller Angst, Bitternis und klanggewordenen Lebensgefährdung bis zum Entreißen der Seele aus dem Leib schwebt dieser Todesengel doch auf goldenen Schwingen über der Szene, wahrhaftig als die gewaltige Exekutive der sprichwörtlichen Majestät des Todes. Zwischen dem Donnergrollen scheint aber das Licht der Liebe hindurch und mit tröstlichem Leuchten verglimmt dieses erhabene Werk, das keinen pathetischen Paukenschlag zum Finale benötigt.
Es verhallt in der Ewigkeit, in der Hoffnung auf den Sieg der Liebe über die Endlichkeit des irdischen Daseins.
Dr. Andreas Ströbl, 23. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at