Wollte Cathy Marston mit ihrer Jane Eyre-Choreographie zeigen, dass männliche Tänzer beim Ballett mehr oder weniger überflüssig sind?

Jane Eyre, Ballett von Cathy Marston  Staatsoper Hamburg, 6. Dezember 2023

Greta Jörgens (Helen Burns), Ana Torrequebrada (Junge Jane), Christopher Evans (St. John Rivers), Anna Laudere (Blanche Ingram), Karen Azatyan (Edward Rochester), Ida Praetorius (Jane Eyre) (Foto RW)

Leider bleiben auch die Pas de deux der beiden Protagonisten im Oberflächlichen haften. So hat Cathy Marston für den Schluss des Festes im Herrenhaus einen langen, von Eifersucht, Verzeihen, Liebe und Glück handelnden Pas de deux choreographiert, der aber nicht rein tänzerisch, sondern im Detail nur mimisch eingelöst wird. Gerade hier wird schmerzlich deutlich, was wir bald wegen der Emeritierung von John Neumeier vermissen werden: Pas de deux, bei denen die tiefen Gefühle der Beteiligten nur durch Tanzsprache ausgedrückt unmittelbar Zugang zu unseren Herzen finden.

 

Jane Eyre, Ballett von Cathy Marston nach dem Roman von Charlotte Brontë

Bühnenbild und Kostüme: Patrick Kinmonth

Musikarrangement und Originalkomposition von Philip Feeney unter Verwendung von Musik von Fanny Hensel, Felix Mendelssohn Bartholdy und Franz Schubert

Staatsoper Hamburg, 6. Dezember 2023

von Dr. Ralf Wegner

Den viktorianischen Gouvernantenroman Jane Eyre von Charlotte Brontë habe ich nie gelesen, kenne aber eine der vielen Verfilmungen sowie die Kurzfassung der Handlung. Früher nannte man so etwas wohl Lore-Roman oder, so hörte ich es einst von meiner Großmutter, Träumereien für arme Dienstmädchen (sie war eine). Als Ballett aufbereitet kann und muss die Handlung natürlich gekürzt werden und könnte choreographisch auch elegant am Tränensee des Kitsches vorbeisegeln. Das ist Cathy Marston mit ihrer Vertanzung und mit Hilfe der fabelhaften Hamburger Tänzerinnen und Tänzer weitgehend auch gelungen.

Was zeigte sich auf der Bühne, zumindest von unserem sehr seitlich gelegenen Platz aus: Hinter einem Gazevorhang wurde zunächst, offenbar in der Tiefe eines Sees, eine weiß gekleidete Frau von einer Schar grauer, fischartiger Männer gejagt. Offenbar hatte sie versucht, sich zu ertränken.

Sie wird gerettet und gerät, jetzt als junge Jane bezeichnet, auf einen Friedhof. Ihre Eltern sind offenbar gestorben. Sie kommt bei einer Familie, den Reeds, unter. Die kratzbürstige junge Jane, ganz großartig und hingebungsvoll von der neuen Solistin Ana Torrequebrada getanzt, zankt sich mit den Reeds-Kindern, wird ungerecht behandelt und landet in einem Waisenhaus. Der Leiter Mr. Brocklehurst, dem Matias Oberlin mit schlangenhaften, vorwärtsdrängenden Bewegungen einen fiesen, fast schon bösartig-übergriffigen Anstrich gibt, kujoniert die ihm unterstehenden Mädchen. Jane freundet sich mit Helen Burns (Greta Jörgens) an, die leider rasch an einem Lungenleiden stirbt.

Jane übersteht die schlimme Zeit im Waisenhaus und ist dort Jahre später, jetzt von Ida Praetorius eher verhalten und freundlich-angepasst dargestellt, eine beliebte Lehrerin geworden. Sie verlässt allerdings bald das Waisenhaus, um bei dem Landhausbesitzer Edward Rochester (Karen Azatyan) eine Stelle als Gouvernante für dessen hyperaktive Tochter Adèle Varens (Lormaigne Bockmühl) anzunehmen. Sie wird von der leicht hektisch-zittrigen Haushälterin Mrs. Fairfax (Silvia Azzoni in einer der bei ihr eher raren komischen Rollen) empfangen und dem Hausherrn vorgestellt. Mehr über kurz als lang sind beide ineinander verliebt. Rochester kümmert sich während eines Festes aber mehr um die schöne Besucherin Blanche Ingram (Anna Laudere) und hinterlässt eine eifersüchtige Jane. Ihr Ärger glättet sich während eines Pas de deux, bei der er ihr die Ehe anträgt.

Vorne Silvia Azzoni (Mrs Fairfax), Ida Stempelmann (Bertha Mason), Nathan Brock (musikalische Leitung des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg), dahinter Matias Oberlin (Mr Brocklehurst), Olivia Betteridge (Diana Rivers) und/oder Charlotte Larzelere (Mary Rivers), Greta Jörgens (Helen Burns) (Foto RW)

Die Hochzeitsfeier wird von einer rothaarigen, offenbar im Haus eingesperrten Irren namens Bertha Mason (Ida Stempelmann) gestört. Als Jane erfährt, dass es sich um die noch lebende Ehefrau Rochesters handelt, verlässt sie gekränkt den eben noch Geliebten. Jane findet schnell eine neue Anstellung bei dem Vikar St. John Rivers (Christopher Evans), dessen Eheantrag sie allerdings ablehnt und wieder zu Rochester zurückkehrt. Dem hat seine Angetraute inzwischen das Haus angezündet und ihm die Augen ausgekratzt. Jane hat endlich etwas, was sie wohl immer wollte, einen Mann, der auf sie und nicht einen Mann, auf den sie angewiesen ist.

Getanzt wird vorwiegend bodenständig, d.h. die Choreographin Cathy Marston verzichtet weitgehend auf im klassischen Ballett übliche weite Sprünge, mehrfache Drehungen in der Luft oder imponierende Hebungen, also auf in der Regel den männlichen Tänzern vorbehaltene Bewegungselemente.

Während sie den Tänzerinnen schöne und auch ästhetische beeindruckende Passagen choreographiert, wie zum Beispiel im ersten Teil den Pas de deux der jungen Jane mit Helen Burns oder im zweiten Teil den Pas de trois mit Diana und Mary Rivers (Olivia Betteridge und Charlotte Larzelere), gleiches gilt für die Auftritte von Anna Laudere oder Lormaigne Bockmühl, fiel ihr für die Männer nur wenig ein.

Schon die Funktion der von ihr D-Men genannten 11 Tänzer bleibt dramaturgisch gesehen unklar. So behindern sie durchaus die tänzerische Entwicklung der eher im Sinne eines Kammerballetts angelegten Auftritte von Ida Praetorius. Wo man bei Jane ein raumgreifendes Solo erwarten könnte, muss sie sich mit den unmotiviert umherspringenden D-Men abgeben. Zudem werden diese als Friedhofswärter und Kulissenschieber genutzt oder als tumbe pferdebegeisterte Begleiter Edward Rochester zugeordnet.

Das Jane Eyre-Ensemble, vorn im rosa Kleid Lormaigne Bockmühl (Adèle Varens) (Foto RW)

Während des großen Festes im Herrenhaus zieht sich Rochester zudem mit fünf dieser D-Men in ein Nebengemach zurück, um dort eine Art männlichen Ringelpietz mit Anfassen zu veranstalten. Marston weist Rochester auch merkwürdig wirkende Schritte zu, wie ein mehrfaches, kreiselartiges, leicht springendes Drehen auf Linie; was den Eindruck eines geworfenen Springballs hinterlässt oder an das sog. Steinehüpfen übers Wasser erinnert. Schlüssig dagegen ist sein gegenüber Jane aus dem Sitzen heraus nach vorn gestrecktes Bein, mit dem er Dominanz und Befehlsgewalt ausdrücken will.

Warum sich Rochester allerdings stehenden Fußes in die eben eingetroffene Hausgouvernante verliebt, erschließt sich choreographisch nicht. Bei Jane ist es offenbar Liebe auf den ersten Blick. Aber was bindet ihn an sie? Kurz nach dem Eintreffen auf dem Herrenhaus erträumt sich Jane offenbar eine romantische Beziehung mit Rochester, der sie, halb entkleidet, auch prompt erwartungsvoll anblickt. Es folgt ein eher kurzer Pas de deux im Sinne einer intimen Beziehung.

Da aber zeitnah die Haushälterin diese Liaison bemerkt, war diese Szene offensichtlich real und nicht als Traum gedacht. Das Wachsen einer Liebe zeigt die Choreographin nicht. Die Pause kam daher bei Marstons Ballett auch etwas abrupt.

Wie anders und psychologisch glaubwürdiger entwickelte John Neumeier im Vergleich dazu die Beziehung zwischen Anna und Wronski in seinem Ballett Anna Karenina.

Zu Christopher Evans, einem wahrhaft guten Tänzer und Darsteller, fiel Marston auch nur wenig ein, sein einen ältlichen Herrn imitierendes Bewegungsmuster war wohl von ihr so gewollt, um Jane in notwendigem Umfang abzuschrecken. Dass Evans nicht der etwas stocksteife Vater, sondern der Bruder der Schwestern Diana und Mary sein sollte, entnahm ich erst später dem Besetzungszettel.

Leider bleiben auch die Pas de deux der beiden Protagonisten im Oberflächlichen haften. So hat Cathy Marston für den Schluss des Festes im Herrenhaus einen langen, von Eifersucht, Verzeihen, Liebe und Glück handelnden Pas de deux choreographiert, der aber nicht rein tänzerisch, sondern im Detail nur mimisch eingelöst wird. Gerade hier wird schmerzlich deutlich, was wir bald wegen der Emeritierung von John Neumeier vermissen werden: Pas de deux, bei denen die tiefen Gefühle der Beteiligten nur durch Tanzsprache ausgedrückt unmittelbar Zugang zu unseren Herzen finden.

Greta Jörgens und Ana Torrequebrada (Foto: Kiran West)

Was bleibt positiv in Erinnerung: Eine großartige tänzerische Interpretation der jungen Jane durch Ana Torrequebrada sowie ihr einfühlsamer Pas de deux mit der zarten Greta Jörgens (beiden wurden für ihre Leistung am Ende Blumen zugeworfen). Lormaigne Bockmühl beeindruckte als quirlige Adèle und Ida Praetorius überzeugte zusammen mit Olivia Betteridge und Charlotte Larzelere in einem leider viel zu kurzen Pas de trois auf dem Anwesen des Vikars. Den absoluten Höhepunkt lieferte allerdings Ida Stempelmann als rothaariger, wie ein Irrwisch durch das Landhaus fegender und Edward Rochester die Augen auskratzender Feuerteufel.

Ida Stempelmann (Foto: Kiran West)

Noch ein Wort zur musikalischen Seite, die Komposition Philip Feenays unter Einbindung von Werken der nahe dem Hamburger Michel geborenen Geschwister Fanny Hensel und Felix Mendelssohn Bartholdy sowie von Franz Schubert erwies sich als wenig einprägsam. Der Auftakt begann wie bei Wagners Fliegendem Holländer, danach fiel es aber rasch auf ein mühsam dahinplätscherndes Auf- und Abwogen im Sinne von Philip Glass ab, ohne jedoch dessen Intensität wie bei Neumeiers Glasmenagerie zu erreichen. Manches erinnerte auch an Filmmusik, so die tiefen Kontrabasseinsätze im zweiten Bild, die einem Haiangriff wie in Steven Spielbergs Film Der weiße Hai ähnelten. Sie sollten wohl eine bedrohliche Situation aufzeigen, denn Jane wurde von den bösen D-Men bedrängt.

Dem Publikum hatte das Stück, gemessen an der Dauer des Beifalls, gefallen. Dass die Tänzerinnen und Tänzer bejubelt wurden, versteht sich von selbst, denn dieses hatten ja ganz wesentlich zu dem, insgesamt gesehen, Gelingen des Stücks beigetragen.

Am 8. Dezember werden wir die Alternativbesetzung sehen und von der Mitte des Parketts aus auch eine bessere Sicht auf den hinteren Teil der Bühne haben. Vielleicht ändert sich der visuelle Eindruck auf das Geschehen.

Dr. Ralf Wegner, 7. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Ballett von John Neumeier, inspiriert von Leo Tolstoi, Anna Karenina Staatsoper Hamburg, 13. Mai 2022

Ballett Nijinsky von John Neumeier Staatsoper Hamburg, 31. Oktober 2023

Die Glasmenagerie, Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams Hamburg Ballett, 30. Mai 2023

Ein Gedanke zu „Jane Eyre, Ballett von Cathy Marston
Staatsoper Hamburg, 6. Dezember 2023“

  1. Ich habe den Roman „Jane Eyre“ mehrfach gelesen und kenne alle Verfilmungen. Aber dieses Ballett toppt jede Film- oder Fernsehversion. Man kann sich keine bessere Interpretation dieser weltberühmten Geschichte wünschen. Selbst wenn man den Roman gar nicht kennt, wird die Handlung verständlich. Dass die Musik, die Tänzer:innen, das Bühnenbild und die Kostüme erstklassig sind, versteht sich von selbst bei einem Ballettabend unter der Ägide von John Neumeier. Hoffentlich sehen wir noch viele Choreografien von Cathy Marston in Hamburg.

    Barbara Heinken

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