Diese h-Moll-Messe fordert heraus, fordert dazu auf, zu explorieren, drängt sich nicht auf und offenbart sich nicht von selbst.

Johann Sebastian Bach, Messe h-Moll BWV 232  Philharmonie Berlin, 13. September 2023

Autograph der Messe h-Moll mit Eintragungen von C.P.E. Bach (Foto: public domain via Staatsbibliothek zu Berlin)

Johann Sebastian Bach
Messe h-Moll BWV 232

Collegium Vocale Gent
Ensemble des Collegium Vocale Gent
Philippe Herreweghe  Dirigent

Philharmonie Berlin, 13. September 2023

von Nikolai Röckrath

Die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach. Das Werk, für das einem schnell einmal die Superlative ausgehen. Das „größte musikalische Kunstwerk aller Zeiten und Völker“ (Hans-Georg Nägeli, Musikforscher), der „Mont Blanc der Kirchenmusik“ (Franz Liszt). Ein musikalisches Vermächtnis der gesamten Schaffenszeit des Komponisten mit einer Entstehungsgeschichte von insgesamt rund 35 Jahren. Eines der drei Dinge, von denen mein Vater sagt, dass er sie auf eine einsame Insel mitnehmen würde – womöglich neben einem CD Player und einer Stereoanlage.

Dargeboten wird die „Missa tota“ am Abend des 13. September 2023 vor den ausverkauften Rängen der Berliner Philharmonie von einem der renommiertesten Ensembles dieser Zeit, dem Collegium Vocale Gent. Es wurde im Jahr 1970 von Philippe Herreweghe zu Studienzeiten gegründet. Die erste der drei bislang erschienenen Einspielungen von Herreweghes Ensemble erschien im Jahr 1989, fünf Jahre vor meiner Geburt. Ich höre die h-Moll-Messe heute zum ersten Mal im Konzertsaal. Mit großen, um nicht zu sagen größten Erwartungen.

Umso überraschender, wie wenig opulent die Besetzung ist, mit der sich die Bühne füllt, bevor Herreweghe selbst den Saal betritt, die Partitur dabei lässig in der rechten Hand gefaltet. 23 Orchestermusizierende sitzen dort im Halbrund vor den 18 Sänger:innen. Und ebenso andachtsvoll, so sensibel beginnt die Musik. Weit und offen klingt das scharf artikulierte „Kyrie“, zerbrechlich geradezu.

Die Ohren müssen sich in diesen luftigen Klang erst einhören. Diese h-Moll-Messe fordert heraus, fordert dazu auf, zu explorieren, drängt sich nicht auf und offenbart sich nicht von selbst. Sie fließt dahin, ohne dass es ihr dabei an dabei an Ausdifferenzierung mangeln würde. Die Melodielinien und Fugenthemen fügen sich organisch und subtil ineinander. Wunderbar ausgestaltet und ausgewogen wirkt das „Christe eleison“ von Dorothee Mields (Sopran) und Margot Oitzinger (Mezzosopran) oder der Trialog der Sopranistin mit Patrick Beuckels (Flöte) und dem Tenor Guy Cutting im „Domine Deus“. Einzig die Stimme von Alex Potter (Countertenor) strahlt etwas über den dezenten Klangteppich hinaus.

Als „textorientiert“ wird der Ansatz von Herreweghes Ensemble gerne beschrieben. In diesem transparenten Klangraum wird alles offengelegt. Und technisch spielt und singt das Ensemble sauber, präzise, rund und klar. Zumindest größtenteils, lassen wir das Naturhorn-Solo aus „Quoniam tu solus sanctus“ sowie das etwas gehetzt wirkende Violinensolo aus „Laudamus te“ außer acht. Dynamisch jedoch reizt Herreweghe die Dramatik des Werkes nicht annähernd aus. Die Töne umhüllen den Raum, dringen jedoch nicht tiefer hinein.

Auf der Suche nach Erklärungen treffe ich im Rahmen des Konzerts zufällig auf einen Kritiker der Opernwelt, der die Messe im Gegensatz zu mir schon vielfach im Konzert erlebt hat. Fragmentarisch zusammengefasst empfand er die Messe als absolut nicht inspirierend, es fehle der musikalische Esprit, das Herreweghe Ensemble sei womöglich über seinen Zenit hinaus.

Die Entwicklung von Herreweghes Ensemble vermag ich nicht zu beurteilen. In meinen Ohren haben die Musizierenden die Essenz der Messe durch das langjährige Zusammenspiel geradezu aufgesogen. Nur was davon vermitteln sie nach außen? Ich stelle fest: Die Aufführung ergreift nicht, sie lässt sich nur aktiv erfassen.

Nikolai Röckrath, 17. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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