Thielemann spendet viel Trost

Johannes Brahms, Ein deutsches Requiem  Salzburger Festspiele, Großes Festspielhaus, 30. Juli 2023

Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker © Salzburger Festspiele / Marco Borrelli

Ohne Chor geht da gar nichts. Das ist so die Conclusio, bereits nach knapp zwanzig Minuten im Großen Festspielhaus in Salzburg. Am Pult: Christian Thielemann, der beruhigend seine Hände über alles legt. Am Programm: Ein deutsches Requiem. Das von Brahms, das eigentlich gar keines ist. Schon der Name verrät das. Brahms hat sich nicht an liturgische Vorgaben gehalten. War auch nicht sein Plan. Trost wollte er den Menschen  spenden. Bei Christian Thielemann finden sie ihn.

Salzburger Festspiele, Großes Festspielhaus, 30. Juli 2023

Ein deutsches Requiem, Johannes Brahms

Christian Thielemann, Dirigent
Michael Volle, Bariton
Elsa Dreisig, Sopran
Wiener Singverein
Wiener Philharmoniker

von Jürgen Pathy

Der Chor steht ganz klar im Mittelpunkt. Früher sei der sogar mal ganz vorne gestanden. An der Bühnenkante, wie mir eine Sängerin des Wiener Singvereins erzählt. Ein „Hobbyverein“, wie fast alle in Österreich. Nur der Wiener Staatsopernchor sei professionell, der Rest im Grunde alles „Freizeitsänger“. Rein auf Honorarbasis. Respekt, meine Damen und Herren. Dafür viel mehr als nur eine solide Leistung. Wie auf Wolken gebettet, schallen da die tröstenden Rufe durch das ausverkaufte Festspielhaus. Rund eine Stunde, zwanzig Minuten. Teilweise himmlisch, teilweise robust und auch mal Vollgas. Kein Wunder, dass da am Ende auch mal die Kräfte schwinden.

„Ja, stimmt“, bestätigt die junge Sängerin. Zu Beginn des letzten Satzes, da hätte man durchaus sauberer intonieren können. „Es ist aber auch sauschwer“! Zuvor sei da noch diese Mörder-Fuge, wo man fast schon schreien müsse. Und dann, wie aus dem Nichts, dieser leise anschwellende Ton im siebten Satz. „Selig sind die Toten…“. Vor allem auch noch in dieser so schwierigen Mittellage. Dass man da überhaupt noch von irgendwo Energiereserven mobilisieren kann, gleicht schon einem Wunder. Respekt, meine Damen und Herren!

Gespräche vor dem großen Festspielhaus, wo sich eine Menschentraube gebildet hat. Nachdem Konzert, um Autogramme zu ergattern. Fast alle lassen sich blicken. Michael Volle, bei dem man dachte, man sei bei einem Liederabend. So klar und deutlich klingen seine tröstenden Worte. Elsa Dreisig, die da in den leisen Sphären eine Energie verströmt, als wäre der Heiland persönlich heruntergestiegen. Die Textverständlichkeit lassen wir mal außen vor. Und oben drauf noch eine Menge Prominenz der Wiener Philharmoniker, die in Salzburg aktuell ein Mörderprogramm abspulen müssen – „Figaro“-Premiere am Donnerstag, „Macbeth“-Premiere am Abend zuvor. Nur von Thielemann fehlt jede Spur.

Thielemann fliegt davon

Der hatte zuvor mal wieder ein Heimspiel. Deutsches Fach. Da fühlt er sich zu Hause. Da badet Christian Thielemann so richtig im Klang. Pompös, vielleicht, aber niemals zu dick und wuchtig. Als Kapellmeister hat er die Fäden einfach im Griff. Fortissimo-Ausbrüche geraten niemals zu laut. Die dürfe man sowieso nicht zu ernst nehmen, schwirrt mir das jedes Mal durch den Kopf. Anweisungen, die der Wagner-Spezialist seinen Wiener Philharmonikern gerne mal gibt. Der Chor schwebt fein ausbalanciert. Keine Spur von dröhnenden Dezibel-Gefechten, die andere Kollegen schon mal gerne bis über die Schmerzensgrenze führen.

Nur Magie, so etwas wie Gänsehaut, lässt dieses Werk einfach wenig zu. Ende 1868 hat Brahms es endgültig zu Blatt gebracht. In einer langjährigen Entwicklung. Viel Wagner ist da zu hören. Schon zu Beginn könnte man meinen, man tauche gleich ein ins Rheingold. Verblüffend ähnlich klingt da das Brummen der Kontrabässe. In Folge dann ein Schuss „Lohengrin“, eine Prise „Parsifal“, auch wenn der erst Jahre später im Bayreuther Festspielhaus seine Uraufführung feiern sollte. Und fertig ist „Ein deutsches Requiem“. Natürlich, insgesamt eine eigene, abgewandelte Klangsprache, die Brahms da entwickelt hat. Im Grunde aber „Parsifal“-Style: Viel Atmosphäre, wenig Melodien, an denen man sich vorhanteln könnte. An Richard Wagner kommt er dennoch bei weitem nicht ran. Der hat das am Ende perfektioniert.

Thielemann holt da raus, was man nur kann. Kaum Bewegungen am Pult. Dennoch ist sein Rücken gezeichnet nach den rund achtzig Minuten im Schwebezustand dieses Requiems. Energieraubend dürfte es also dennoch sein. Spannung halten, das ist nämlich das Geheimnis. Die hält er. Dabei wachsen ihm fast Flügel. Imaginär natürlich nur. Als Schweißabdrücke zeichnen sie seinen blau-grauen Anzug, den er wie ein nordkoreanischer Diktator ohne Hemdkragen trägt, bis nach oben zugeknöpft. Ein Markenzeichen von Christian Thielemann.

Auch sonst hat er alles fest im Griff. „Einen Moment noch“ oder „Wartet“, ist am Ende seinen Lippen abzulesen. Dann erst dürfen sich Michael Volle und Elsa Dreisig nochmals verneigen. Und „nochmals“, und „nochmals“.  Während das Salzburger Festspielpublikum ausgiebig applaudiert und ihn – wie auch in Wien – fast schon auf Händen trägt.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert