Foto: Alan Gilbert © Peter Hundert
Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal, 21. September 2019
NDR Kammerkonzert
Stefan Wagner, Violine
Rodrigo Reichel, Violine
Alan Gilbert, Viola
Jan Larsen, Viola
Andreas Grünkorn, Violoncello
Christopher Franzius, Violloncello
Johannes Brahms
Streichsextett Nr. 1 B-Dur op. 18(1859-1860)
Streichsextett Nr. 2 G-Dur op. 36 (1864-1865)
von Elzbieta Rydz
Johannes Brahms‘ Haltung zu seinen Kompositionen war lebenslang krankhaft selbstkritisch. Viele seiner Werke hat der Komponist mangels fehlender Eigenakzeptanz vernichtet. Die beiden einzigen auch als „Zwillingswerk“ bezeichneten Sextette, die Brahms veröffentlichte, waren die ersten Stücke seiner Streicher-Kammermusik; sie wurden in einem Abstand von vier Jahren komponiert.
Die vielstimmige, aber ungewöhnliche Besetzung mit je zwei Violinen, Violen und Violoncelli ist sicherlich überraschend, bildet aber ein Fenster zu Welten: Im Streichsextett Nr. 1 B-Dur, Op. 18 ist die Besetzung des doppelten Trios recht intim, die entstehende Klangfülle schlägt eine hörbare Brücke zur symphonischen Form. Anklänge deutscher Volkslieder, melodische Auszierungen, Zigeunerweisen, die ab 1849 mit den ungarischen Emigranten in die Hansestadt kamen, sowie Seufzermotive prägen horizonterweiternd das Werk.
Die Interpretation und der Ausdruck an diesem Abend: viel Plastizität. Per Vibrato lässt sich schwerlich eine besonders dichte Klanglichkeit erzeugen, dazu bedarf es mehr Interaktion im Ensemble. Das gemeinsame Musizieren erfordert nicht nur ein exzellentes Einstudieren, sondern auch die feingliedrige Achtsamtkeit, das Spüren des Klangkörpers und oft ein „schmerzliches“ Aufgeben eigener Territorien.
Das G-Dur Sextett op. 36 überzeugt durch den Einsatz der sechs Streicher: Hier schwelgt der 25 Jahre alte, hübsche, blondhaarige Brahms in seiner Liebe zu Agathe von Siebold, der er im Januar 1859 einen Schmerz zugefügt hat, in dem er ihr eindeutig einen Laufpass gegeben hat: Mit den Worten „Fesseln tragen kann ich nicht!“ wählte Brahms die vermeintliche Freiheit, die ihm durch eine feste Beziehung geraubt worden wäre.
„…wie eine Kette lieblicher Gedanken“, stimmungsvoll, eingängig präsentiert sich der erste Satz, Allegro non troppo.
Im Scherzo verarbeitet Brahms eine Gavotte in a-moll: Hier reicht das erste Cello ein schwungvolles Thema an die erste Geige weiter, lyrisch-nachdenklich, versponnen. Im Mittelteil des Scherzos ein frisch-forscher Walzer in G-Dur und ein Dreiertakt eines Ländlers als Kontrast zu den Außenteilen.
Besonders beeindruckend, von direkter Intensität und Wärme die führende Viola von Alan Gilbert – dem neuen Chefdirigenten des NDR Elbphilharmonie Orchesters – im dritten Satz, dem Poco Adagio, der als Variationenfolge komponiert ist. Mit chromatischen Abwärtsbewegungen in der ersten Variation wird die durchdringend klagende Melodie durch Zwiegespräche der Instrumente in der zweiten Variation abgelöst. Die Moll-Stimmung durchzieht den Satz bis zur fünften Variation, die ein wenig aufhellt durch die Dur-Tonalität.
Dringend wünschenswert und erforderlich wäre eine paritätische Ensemblekultur, die unwillkürlich bewegt, die betroffen macht. Eine Kultur, aus der auch eine zeitlose, souveräne Frische und Jugendlichkeit, eine Ausdrucksvielfalt hervorgeht. Ein Fenster zu Welten.
Elzbieta Rydz, 23. September 2019 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at