Unstillbarer Lebensdurst bis zum bitteren Verhängnis: Elsa Dreisig brilliert in Jules Massenets Hamburger „Manon“

Jules Massenet, „Manon“,  Hamburgische Staatsoper, 12. Juni 2021

Elsa Dreisig als Manon, © 2021, Foto: Brinkhoff/Mögenburg

Jules Massenet, „Manon“
Hamburgische Staatsoper, 12. Juni 2021

Premiere 24. Januar 2021, LiveStream – 2. Juni 2021, Großes Haus

Nur strahlende Gesichter bei Mitwirkenden und Publikum! Da war es tatsächlich vollbracht – der Transfer vom LiveStream in die reale Welt der Oper: eine sensationelle „Manon“ an der Hamburgischen Staatsoper vor einem wirklichen, anwesenden Publikum!

von Dr. Holger Voigt

Dieses war zwar Pandemie-bedingt reichlich ausgedünnt auf Distanz platziert, doch trat dieser Umstand nicht nachteilig in Erscheinung, sieht man einmal von ausbleibenden spontanen Publikumsreaktionen ab, was allerdings auch dem musikalischen Duktus Massenets melodischer Struktur geschuldet ist (kaum Gelegenheit für einen Zwischenapplaus).

Am Ende frenetischer Beifall fast wie in früheren Zeiten, deren Wiedererweckung hoffentlich bald wieder an der Tagesordnung sein wird. Eine französische „Grand Opéra“ in Hamburg auf der Bühne – wer hätte sich das noch Anfang des Jahres vorstellen können?

© 2021, Foto: Brinkhoff/Mögenburg

Die hohen Erwartungen, die bereits durch die LiveStream-Fassung (Premiere 24. Januar 2021) geweckt worden waren, fanden sich vollauf bestätigt: Diese Oper ist ein wahres Glanzstück der Hamburgischen Staatsoper. Sie hat so gut wie keine Schwachstellen und überzeugt bis ins kleinste Detail. Alle Mitwirkenden ohne Ausnahme auf höchstem darstellerischen und sängerischen Niveau, dazu ein filigran spielendes und melodramatisch atmendes Philharmonisches Staatsorchester, das unter der hervorragenden Leitung von Maestro Sébastien Rouland die atmosphärische Dichte mitsamt ihrer emotionalen Register perfekt umzusetzen vermochte. Die Partitur ist anspruchsvoll – alles andere als ein Leichtgewicht – aber alles war im richtigen Verhältnis proportioniert und gelang mit durchdringender  Ausdrucksstärke.

So schön kann Massenet klingen, beinahe ein eigenständiger Klangrausch neben der rauschartigen Handlung, die sich da in phantastischen Bühnenbildern (Patrick Bannwart) vollzog. Niemals wurde es langweilig, immer gab es neue Entwicklungen und überraschende Ideen der gelungenen Inszenierung von David Bösch. Spielleitung und Personenregie (Birgit Kajtna) sorgten für eine perfekte Umsetzung dramaturgischer Ideen innerhalb der von Massenet vorgegebenen musikalischen Räume. Es passte immer!

© 2021, Foto: Brinkhoff/Mögenburg

David Bösch entwarf eine Zeitachse des Verlaufs des Geschehens mit animierten grafischen Visualisierungen, die abschnittsweise betitelt waren und dem Zuschauer Orientierung gaben. Sie zeigen den verhängnisvollen Ablauf der illusionären Welt des 16-jährigen Teenagers Manon Lescaut, die unaufhaltsam dem Untergang entgegen lebte: Kein Happy End in Sicht, alles nur Illusion? Massenets Geniestreich, der jedem die Beantwortung dieser Frage selbst überantwortet. Reichlich Stoff zur persönlichen Auseinandersetzung und Interpretation. Das will Kunst eben leisten.

Der Regisseur ließ große Teile des Chores im Bereich der Opernränge singen, was die besondere Schönheit des Chorgesanges dieser Oper hervorragend zur Geltung kommen ließ. Damit war auch eine höhere Sprachdeutlichkeit verknüpft, was durch Platzierung auf der Bühne nicht zu gewährleisten gewesen wäre – der Chorgesang wäre im Klang von Orchester und Solisten untergegangen. So konnte der Zuhörer deutlich erfahren, wie ausgefeilt Massenets Komposition mit dem Chorgesang umzugehen in der Lage war.

© 2021, Foto: Brinkhoff/Mögenburg

Auch an diesem Abend brillierten alle GesangssolistInnen, sowohl sängerisch als auch schauspielerisch. Letzteres ließ einige Male an Giacomo Puccinis „La Bohème“ erinnern, so plastisch ging es auf der Bühne zu. Für die intimeren Szenen wurden Räume verkleinert und bis auf Minimalversion verdichtet. Die finale Todesszene – bezeichnenderweise  „C’est la vie“ betitelt – zeigte Manon und Chevalier Des Grieux inmitten einer einsamen Naturlandschaft, die von Friede und Abschied erfüllt ist. Ein Aufblitzen von Erinnerungen kann den konsequenten Prozess nicht mehr aufhalten – dieses ist die Endstation. Eine Prise „Romeo und Julia“ scheint durch.

Über Elsa Dreisigs Rollengestaltung und gesangliche Leistung kann man nur mit höchster Bewunderung sprechen. Sie ist mit Sicherheit zur Zeit die beste Manon, die man sich vorstellen kann. Obwohl Manon von einer Katastrophe in die nächste stolpert, weil sie eben vom Leben alles haben will – am besten sogar alles auf einmal – gewinnt sie die Sympathien der Zuschauer und ist doch letztlich zu großen Teilen Auslöserin aller fatalen Verstrickungen.

Ioan Hotea als Chevalier Des Grieux war ein idealer Gesangspartner mit einer schön klingenden, lyrischen Tenorstimme, die keine Schwierigkeit zu scheuen braucht. Indes klang sie an den forte-Stellen ein wenig zu metallisch und wirkte dabei etwas eingefroren und dröhnend, was aber den Gesamteindruck überhaupt nicht trübte. Etwas störend hingegen zeigten sich einzelne „Schluchzer“-artige Intonationen, die aber ebenso nicht besonders ins Gewicht fielen.

© 2021, Foto: Brinkhoff/Mögenburg

Auch in den anderen Partien großartige Lestungen: Dimitry Ivashchenko als Graf Des Griex erhielt viel Beifall für seinen noblen Bassvortrag – ein wenig an Giuseppe Verdis baritonale „väterliche Rollenpartien“ erinnernd.

Bariton Björn Bürger als Lescaut überzeugte durchgehend durch eine perfekte Stimmführung und Ausdrucksstärke. Gleiches gilt für den Tenor Daniel Kluge (Guillot-Morfontaine), beide mit enormer Bühnenpräsenz und Spielfreude bis ins kleinste Detail.

Alles in Allem: Ein großer Opernabend höchster Qualität in mühselig zurückeroberter künstlerischer Freiheit, die sich zukünftig wohl hoffentlich wird bewahren lassen. Danke an alle Mitwirkenden!

Dr. Holger  Voigt,  15. Juni 2021,  für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at


Siehe auch:

„Das Licht am Ende des Pandemie-Tunnels heißt Elsa Dreisig: Die Premiere von Massenets „Manon“ in Hamburg begeistert“

Jules Massenet: „Manon“, Hamburgische Staatsoper, Premiere 24. Januar 2021,

Inszenierung: David Bösch

Bühnenbild: Patrick Bannwart

Kostüme: Falko Herold

Licht: Michael Bauer

Dramaturgie: Detlef Giese

Spielleitung: Birgit Kajtna

 

Orchester: Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

Musikalische Leitung: Sébastien Rouland

Chor: Chor der Hamburgischen Staatsoper

Leitung: Eberhard Friedrich

 

Manon Lescaut: Elsa Dreisig

Poussette Tahnee Niboro

Javotte: Narea Son

Rosette: Ida Aldrian

Der Chevalier Des Grieux: Ioan Hotea

Der Graf Des Grieux: Dimitry Ivashchenko

Lescaut: Björn Bürger

Guillot-Morfontaine: Daniel Kluge

von Brétigny: Alexey Bogdanchikov

Der Wirt: Martin Summer

Gardist 1: Collin André Schöning

Gardist 2: Hubert Kowalczyk

 

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