Elsa Dreisig, Foto: Simon Fowler
„Dieser Premierenabend an der Hamburgischen Staatsoper war eine wahre Offenbarung. Da stand ich nun zu Hause vor meinem PC und klatschte mir stehend die Hände wund. Gratulation für diese wunderbare Aufführung!“
Hamburgische Staatsoper, Premiere 24. Januar 2021, LiveStream 27. Januar 2021
Jules Massenet: „Manon“
von Dr. Holger Voigt
Wann hat es das zuletzt gegeben? Eine große Opernpremiere eines opulenten Werkes auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper? So geschehen am 24. Januar 2021 ebendort! Doch die Sache hat einen „Haken“: Die Premiere fand ohne Live-Publikum statt und war lediglich als Livestream am Bildschirm zu verfolgen. Dennoch gelang der Hamburgischen Staatsoper eine prachtvolle Premiere dieser zuletzt 1929 in Hamburg aufgeführten Oper Jules Massenets, die alles bietet, was ein Opernherz begehrt.
Und als dann der letzte Ton verklungen war und sich durch den fehlenden Schlussapplaus die Pandemie-Realität besonders schmerzlich ins Bewusstsein schob, dürfte der Entschluss bei vielen Betrachtern gefasst worden sein, diese Aufführung in Zeiten zukünftiger Öffnung tatsächlich auch „live-haftig“ vor Ort anzusehen.
Die Geschichte des 16-Jahre alt werdenden Teenagers Manon Lescaut, in der Opernliteratur mehrfach umgesetzt (Puccini), geht zurück auf den Roman „Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut“ des Abbé Prévost (1731). Nach dem Libretto von Henri Meilhac und Philippe Gille stellte Jules Massenet seine eigene Fassung auf die Opernbühne (Uraufführung am 19. Januar 1884, Opéra-Comique in Paris).
In seiner jetzigen Inszenierung holt David Bösch die historischen Fragmente des Romans in die Gegenwart und macht sie dort zeitlos. In einem umwerfenden Bilderkaleidoskop fügt er Szene an Szene, wohlwissend, dass der zeitgenössische Zuschauer, geradezu bis zum Überdruss mit Bildern aus unzähligen Soap-Operas und Schmonzettenserien abgefüllt, sich nicht vom Hocker reißen lassen wird, eine derartige Geschichte auf der Opernbühne zu sehen, die es zudem im wahren Leben immer und immer wieder gegeben hat und sich auch gegenwärtig immer wieder ereignet – das lehrt uns der Boulevard-Journalismus Tag um Tag. Aber was uns heute schon gewöhnlich erscheinen mag, ist zu Massenets Zeiten durchaus eine sehr innovative Lesart musikdramatischer Ausdruckskunst gewesen.
Zusammen mit Bühnenbildner Patrick Bannwart, Lichtdesigner Michael Bauer und Kostümdesigner Falko Herold erschafft David Bösch unglaubliche Szenenräume voller bildgewaltiger Detailmagie – ein wahrhaft opulentes Geschenk an die Zuschauer. Das alles verknüpft durch hochkarätige Video-Animationen, die einzelne Segmente strukturgebend betiteln. Durch die Aufteilung einer etwa 2 ½ Stunden dauernden Oper in 5 Aufzüge mit 6 Bildern wirkt die gesamte Oper kurzweilig und übersichtlich. Dabei ist sie ständig durchzogen von klanglich-melodischer Dichte, die dank des hervorragenden Dirigats Sébastien Roulands und dem präzis eingestimmten Philharmonischen Staatsorchester Hamburg nie pastös wirkt, sondern wendig und von wechselnden Emotionen getränkt (Elsa Dreisig nannte die Musik „cremig“).
Die tragisch mit dem Tod endende Geschichte der Manon Lescaut und ihres Geliebten Chevalier Des Grieux beginnt mit der Entscheidung der Protagonistin, nicht das ihr angedachte behütete Leben im Kloster anzutreten („Leben“ als Substantiv), sondern sich für das freie Leben („Leben“ als Verb gedacht) zu entscheiden und dieses in vollen Zügen zu genießen (das „pralle“ Leben eben). Für eine 15-Jährige seinerzeit sicher ein tollkühner Entschluss, zumal sie nicht wissen konnte, welche Gefahren ihr zusetzen werden. Da sie zudem ausgesprochen schön ist, gibt es derer nicht gerade wenige. Genusssucht und Luxusstreben stellen sich nur allzu schnell ein und torpedieren die initial romantische Liebesbeziehung zu Des Grieux, der wirklich ein tragischer Held werden wird.
Selbst aus seiner aus Verbitterung und Enttäuschung freigewählten Isolation als angehender Priester am Priesterseminar Saint-Sulpice lässt er sich mit neuerlichem Liebesversprechen Manons erneut herauslösen, da die Droge der Erinnerung an eine ungetrübte Liebe noch immer wirksam ist. So wie Manon immer und immer wieder in ihren Entscheidungen genau die falschen trifft, so hoffnungslos verhängnisvoll ist auch das, was Des Grieux unternimmt. Es ist ein ständiger Ritt auf der Rasierklinge. Am Ende sind beide tot und Opfer ihrer eigenen Illusionen. Das ist wahrlich großes Kino, und es ist kein Wunder, dass diese Oper Massenets schon Ende des Neunzehnten Jahrhunderts ein großer Erfolg wurde.
Musikalisch – gesanglich (Solisten und Chor, der im Parkett und in den Rängen positioniert worden war) und orchestral (voller Spielfreude und Ambition aufspielendes Philharmonisches Staatsorchester!) war dieser Abend ein Hochgenuss! Erst nach dem letzten Ton wurde einem wirklich bewusst, in was für einem Klangrausch man sich in den letzten Stunden befunden hatte. Das ist nicht mehr und nicht weniger als die Definition einer „großen Oper“.
Die noch nicht einmal 30-jährige französisch-dänische Sopranistin Elsa Dreisig bot sängerisch und darstellerisch eine unfassbare Leistung höchster Qualität. Ihre Stimme passt genau für diese Form einer spätromantisch-impressionistischen französischen Oper: Wer sollte diese Partie sonst singen? Ihre Stimme entfaltet alle denkbaren emotionalen Register, sei es als Marilyn Monroe nachempfundener Pop-Star oder als Betende, die den Dialog zu Gott sucht, als es nicht mehr weiterzugehen scheint. Obwohl man über Manon eigentlich nur den Kopf schütteln kann, ist sie gleichwohl eine Sympathieträgerin, deren Sympathie sich Stufe um Stufe in Mitleid wandelt. All diese Nuancen stellte Elsa Dreisig mit unglaublicher Intensität dar. Bis zum Schluss ist es unmöglich, ihr nicht mit größter Faszination zuzusehen.
Fast auf die gleiche Höhe muss man aber auch die gesangliche und darstellerische Leistung von Ioan Hotea als Chevalier Des Grieux stellen. Seine Stimme entspricht geradezu exemplarisch der eines lyrischen Tenors im französischen Opernfach. Immer und immer wieder strömte ausdrucksstarker Schönklang aus seiner perfekt modulierten Stimme hervor, die unangestrengt und wendig imponierte.
Björn Bürger als Cousin Lescaut, der eigentlich auf seinen Schützling hätte aufpassen sollen, überzeugte durch markante stimmliche Präsenz und darstellerische Vielfalt, die je nach Motivlage treffsicher wechseln konnte. Subjektiv erschien er mir als Protagonist etwas zu jung, um den Begleiter aus der Welt der Konventionen zu repräsentieren. Und so moralisch integer, wie man es hätte erwarten können, ist er ja auch wirklich nicht.
Auch Jules Massenet hat mit Graf Des Grieux einen „ins-Gewissen-redenden baritonalen Vater“ erschaffen, wie er in Verdis Opern oftmals vorkommt. Die warm timbrierte Stimme Dimitry Ivashchenkos bietet genau diese Voraussetzungen und wirkte in allen Szenen überzeugend.
Die etwas maliziöseren Charaktere am Rande der Geld- und Machtbeherrschten Unterwelt, Guillot-Morfontaine (Daniel Kluge) und de Brétigny (Alexey Bogdanchikov) waren perfekt besetzt, stimmlich überzeugend und darstellerisch brilliant.
Alles in allem war dieser Premierenabend an der Hamburgischen Staatsoper eine wahre Offenbarung. Da stand ich nun zu Hause vor meinem PC und klatschte mir stehend die Hände wund. Gratulation für diese wunderbare Aufführung!
Dr. Holger Voigt, 27. Januar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jules Massenet, «Manon» (Premiere / Stream) Staatsoper Hamburg, 24. Januar 2021
Inszenierung: David Bösch
Bühnenbild: Patrick Bannwart
Kostüme: Falko Herold
Licht: Michael Bauer
Dramaturgie: Detlef Giese
Orchester: Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Musikalische Leitung: Sébastien Rouland
Chor: Chor der Hamburgischen Staatsoper
Leitung: Eberhard Friedrich
Manon Lescaut: Elsa Dreisig
Poussette: Elbenita Kajtazi
Javotte: Narea Son
Rosette: Ida Aldrian
Der Chevalier Des Grieux: Ioan Hotea
Der Graf Des Grieux: Dimitry Ivashchenko
Lescaut: Björn Bürger
Guillot-Morfontaine: Daniel Kluge
de Brétigny: Alexey Bogdanchikov
Der Wirt: Martin Summer
Gardist 1: Collin André Schöning
Gardist 2: Hubert Kowalczyk
Lieber Herr Voigt,
ich würde mich vorbehaltlos Ihrer Begeisterung anschließen, wenn nicht sichtbar mit Microports gesungen worden wäre. Warten wir ab, ob die schönen Stimmen auch im großen Zuschauerraum der Hamburgischen Staatsoper entsprechend tragen und klingen. Viele Grüße, Ihr Ralf Wegner
Lieber Herr Wegner, genau das wird hochinteressant wahrzunehmen sein, wenn es dann endlich so weit ist. Und auch der Chor: wo wird er dann stehen und wie klingen?
Viele Grüße, Ihr Holger Voigt
Sehr geehrter Herr Wegner,
haben Sie sich schon einmal mit den technischen Vorraussetzungen für die Tonübertragung eines Life-Streams auseinandergesetzt? Informieren Sie sich doch mal entsprechend, bevor Sie hier Kritik anmelden.
Viele Grüße
Angelika Evers