Foto: Juan Diego Flórez, © Manfred Baumann (c)
Royal Opera House London, 17. September 2019
Jules Massenet, Werther (nach Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“)
von Charles E. Ritterband
Kein Zweifel: Juan Diego Flórez gehört zu den begehrtesten Startenören unserer Tage. Kein Geringerer als der große Placido Domingo soll einmal erwähnt haben, kein Tenor singe heute besser als Flórez. Als er an der Royal Opera Covent Garden die berühmte und wunderschöne Arie des Werther „Pourquoi me réveiller, O souffle du printemps?“ anstimmte, verharrte das große Haus in atemloser Bewunderung, um dann in frenetischen und wohlverdienten Applaus auszubrechen: Flórez, mit tenoralem Schmelz, samtener Stimme und präziser Linienführung – ganz auf der Höhe seines Könnens. Berührend. Das war allerdings in den ersten Szenen dieser Produktion deutlich weniger der Fall.
Florez hatte bisweilen unüberhörbar gegen die romantischen Wogen der Musik Massenets anzukämpfen, die ungestüm , herrlich schön und mitunter fast überwältigend aus dem Orchestergraben (souveränes Dirigat: Edward Gardner) in den plüschroten Zuschauerraum der Royal Opera aufstiegen. Und manchmal unterlag der peruanische Startenor, inzwischen Mitte 40, in diesem Zweikampf zwischen Solist und Orchester. Ziemlich oft kommt er an seine Grenzen – da fehlt es ihm schlicht an stimmlicher Durchsetzungskraft. Das Orchester übertönt ihn ganz einfach. Einige der Höhepunkte bringen seine Stimme ans Limit.
Immerhin weiß er als erfahrener Profi diese Schwächen aufzufangen – und sei es durch seine unbestreitbare Bühnenpräsenz. Flórez hat seinen Namen mit Belcanto-Partien gemacht, insbesondere mit Rossini-Opern. Jetzt widmet er sich vermehrt dem lyrischen Fach; Massenets „Werther“ begann er vor drei Jahren zu singen (erstmals jetzt an der Royal Opera). Unverkennbar stößt er in dieser Rolle in gewissen Bereichen bereits an Grenzen. Immerhin: Durch seine sensible, ganz der stimmlichen Schönheit (wie früher in Belcanto-Rollen) gewidmete Interpretation der zentralen Arie „O Souffle du Printemps“, auf die alle im Zuschauerraum sehnsüchtig gewartet haben, gleicht Florez diese geradezu schmerzhaften Schwächen mehr als aus – das erkennt man an der anerkennenden, ja begeisterten Reaktion des Publikums.
Charlotte, die Frau, die Werther liebt und für die er sich am Ende das Leben nimmt, wurde verkörpert von der großartigen, in ihrer Präsenz und Schönheit auch restlos überzeugenden Isabel Leonard – auch sie ein Weltstar, die an vielen großen Häusern weltweit gesungen hat. Die amerikanische Mezzo-Sopranistin Leonard – im Rollendebut an der Royal Opera – hat eine kräftige, sichere und doch cremig-geschmeidige Stimme von berückendem Wohlklang, und in gewissen Momenten stellt sie ihren Partner stimmlich in den Schatten. Nicht ganz glaubwürdig ist die gewaltige, tragische Liebe zwischen diesen beiden – die Beziehung wirkt doch eher lauwarm, bis auf die letzten Momente, als Charlotte dem sterbenden, blutüberströmten Werther doch noch ihre Liebe gesteht.
Charlotte muss, nach bürgerlichen Konventionen, den ungeliebten Albert (Jacques Imbrailo) ehelichen – sie folgt dem Verlobten und Kindheitsfreund ohne innere Überzeugung in die Ehe und ist dabei sichtlich unglücklich. Der südafrikanische Bariton Imbrailo gibt den Albert mit kräftiger, solider Stimme und stellt überzeugend (wenn auch manchmal in etwas affektierter Pose) seine schwierige Situation dar: Er weiß, dass Werther sein Rivale ist, weiß, dass Charlotte ihn nicht liebt – und verhält sich dennoch gegenüber Werther als untadeliger Gentleman.
Vorbehaltlos begeistert die entzückende amerikanische Sopranistin Heather Engebretson als Sophie, Charlottes kleine Schwester. Ihr Gesang ist glockenhell, kraftvoll in Höhen und Tiefen, überzeugend verkörpert sie die 15-Jährige, die mit kleinen, mädchenhaften Luftsprüngen ungehemmt Freude zum Ausdruck bringt – und (da insgeheim in Werther verliebt), tieftraurig ist, als er weggeht.
Die Inszenierung des Film-Regisseurs Benoit Jacquot, gemeinsam mit dem Bühnenbildner Charles Edwards, ist berückend: Realistisch bis ins kleinste Detail wie bröckelnde Mauern meint man, sich mitten in einem alten Gutshof oder auf dem Vorplatz einer Kirche zu befinden. Jacquot versteht es meisterhaft, aus Theater einen Film zu machen – dass er aus diesem Fach kommt, ist unübersehbar. Meisterhaft die letzte Szene, wo der durch seinen Schuss tödlich verletzte Werther in einer kahlen kleinen Kammer vor sich hin dämmert: Der schäbige Raum taucht irgendwo in der Ferne auf und wird, mittels einfacher aber raffinierter Bühnentechnik, langsam in den Bühnen-Vordergrund gefahren – als ob sich eine Filmkamera langsam an die Szene heranzoomt.
Dr. Charles E. Ritterband, 19. September 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Werther: Juan Diego Flórez
Charlotte: Isabel Leonard
Sophie: Heather Engebretson
Albert: Jacques Imbrailo
Regie: Benoit Jacquot
Bühne und Licht: Charles Edwards
Dirigent: Edward Gardner
Orchestra oft the Royal Opera House