Foto: Karen Leiber © Karen Leiber
War es das warme Frühsommerwetter, war es die vermeintlich schwere Thematik? Nicht viele Besucher fanden an diesem Abend den Weg in das prächtige Konzertfoyer des Schweriner Theaters gegenüber dem in die goldene Abendsonne getauchten Schloss. Im Begleitprogramm zum kürzlich in Schwerin uraufgeführten MAUSER Triptychon fand eine musikalisch umrahmte Lesung der beiden Sepulkralarchäologen Regina und Andreas Ströbl, Forschungsstelle Gruft Lübeck, statt, die von ihren Arbeiten in Grüften und auf Friedhöfen erzählen sollten.
Konzertfoyer des Mecklenburgischen Landestheaters Schwerin, 2. Juni 2023
„Ich liege und schlafe ganz mit Frieden“
Karen Leiber, Gesang
Friedemann Braun, Klavier
Andreas Ströbl, Text und Lesung
von Irene Heidemann
Der von der neuen stellvertretenden Operndirektorin und Dramaturgin Judith Lebiez begleitete Abend begann mit zwei Ansagen. Karen Leiber, die Sopranistin des Abends, hatte sich trotz einer schmerzhaften Beinverletzung bereit erklärt, den Abend zu retten und ihre Lieder im Sitzen zu singen. Dies tat, das sei schon vorweggenommen, dem musikalischen Erlebnis keinerlei Abbruch. Nach einer vor kurzem durchgeführten OP war hingegen Regina Ströbl noch nicht soweit erholt, als dass sie zusammen mit ihrem Mann auf der Bühne stehen konnte. Aber auch dies hatte keinen spürbaren Einfluss auf den Verlauf des Abends.
Fein und zart erklang zunächst „Grabschrift“ von Alban Berg, dessen erste und letzte Zeile „Dem Auge fern, dem Herzen nah“ zum Leitmotiv dieses Abends werden sollte. Wie ein duftiger Schleier lagen die Worte über der Musik, am Flügel begleitet von Friedemann Braun, getragen von der weichen Stimme und einem deutlichen Textverständnis. Das ausgeteilte Blatt mit den Liedtexten war kaum notwendig, niemand musste sich ablenken lassen. Dies war um so erfreulicher, als dass Musik und Lesung in einzigartiger Form aufeinander abgestimmt waren und miteinander agierten. Dem Berg-Lied folgte der erste Lesungsabschnitt, die Klage über den Tod als unausweichliche Tatsache, aber auch als größte Ungerechtigkeit. Was nützt das ganze Leben, alle Arbeit, alle Mühen, wenn es unausweichlich enden muss? Der Tod ist grausam, für den, der geht vielleicht nicht immer. Für die, die nachbleiben, um so mehr. Dies gilt es irgendwie zu bewältigen und wie die Generationen vor uns das versucht haben, wurde nach dieser fast schon poetischen Einleitung mit Bildern und Erzählungen aus der langjährigen Arbeit der beiden Forscher im Folgenden greifbar.
Die Stimmung des Liedes „Träume“ aus den Wesendonck-Liedern von Richard Wagner trug Karen Leiber in Gestik, Mimik und ihrem auf den verträumten Duktus des Textes fokussierten, leuchtenden Sopran in den Raum: „…und dann sinken in die Gruft“ – keine Lesung über Grüfte in Schwerin ohne einen Einblick in die Grablege der Herzöge von Mecklenburg-Schwerin in der nahegelegenen Schelfkirche. Unter vielen anderen wurde dort in einem kleinen Kästchen ein winziger, nicht mitgewachsener Zwilling eines totgeborenen Sohnes oder eine spätere Fehlgeburt beigesetzt, etwas, „was einmal ein Mensch hätte werden sollen“.
Aus den Kindertotenliedern führte „Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen“ von Gustav Mahler zu Gedanken über verstorbene Kinder und zurückgelassene Eltern. Karen Leiber sang dies zurückgenommen, beinahe fahl und mit leicht eingedunkelter Stimme, erneut hochsensibel begleitet von Friedemann Braun. Hier wurde der übergroße Verlust nicht in lauter Verzweiflung beklagt. Gerade durch die zarte, geradezu von Fassungslosigkeit geprägte Stimme erhielt der Text eine um so tiefer ergreifendere Wirkung über den nicht zu ertragenden Verlust der Kinder. Und so wurde, trotz einer großen, auch Dynastie-erhaltenen Kinderschar, der Verlust eines jeden einzelnen Kindes auch in vergangenen Zeiten tief betrauert. Davon zeugen zauberhaft bemalte Kindersärge mit zu Herzen gehenden Inschriften, die nur wenig tröstlich auf die verlassenen Eltern gewirkt haben dürften. Die gezeigten Beispiele aus der Gruft derer von Buchwaldt in Dänischenhagen bei Kiel geben davon ein berührendes Zeugnis.
„Ein Lied“ von Dora Pejačević, laut seinen Worten einst munter gesungen, längst verklungen und nun zu verstohlenem Weinen geworden, leitete den nächsten Textabschnitt ein, in dem es um Inschriften auf Särgen ging. Vieles ist dabei formelhaft, auch abseits von Bibelversen. Aber einige Beispiele aus der Rothenklempenower Kirche bei Pasewalk vermitteln, wie sehr hier ehrlich und aus vollem Herzen geliebt und getrauert wurde.
Natürlich ist der Tod nicht lustig; dennoch sind den Archäologen Inschriften auf Särgen und Grabsteinen begegnet, die uns heute schmunzeln lassen. Aber auch sehr persönliche Empfindungen werden manchmal geäußert. So verewigte die betrogene Herzogin Christine Margarete von Mecklenburg-Schwerin ihre ganze Wut und Verzweiflung über ihren geschiedenen Ehemann Christian Ludwig I. von Mecklenburg-Schwerin auf der Inschrift ihres Sargdeckels. An dieser ungewöhnlichen Stelle beklagt sie sich, für alle Zeiten in Zinn gegossen, über dessen übles Verhalten und dass sie sich von ihm hat distanzieren müssen, „weil sie von ihrem Herrn liederlicherweise verlassen“ wurde.
William Grant Still’s „Grief“, ein Lied über den weinenden und trauernden Engel, von Karen Leiber feinsinnig weich und wieder mit klarer, vibratoloser Stimme vorgetragen, eröffnete den letzten Abschnitt, in dem es um die Frage ging, ob es denn überhaupt trotz allem einen guten oder richtigen Tod geben könne. Daran zumindest denken lässt die Bestattung der Großmutter u.a. der Preußenkönigin Luise, Landgräfin Maria Luise Albertine zu Leiningen-Dagsburg in der Johanniterkirche zu Mirow. Diese offenbar ebenso resolute wie volksnahe und beliebte Dame starb hochbetagt kurz vor ihrem 89. Geburtstag und hinterließ insgesamt 122 Nachfahren, die sie erlebt hatte und die ihr laut Sarginschrift in herzlicher Liebe verbunden waren. So wird dem Tod vielleicht in diesem Fall die Härte und Grausamkeit genommen.
Mit über die gesamte Zeit gut tragender und enorm gestaltungsreicher, dem Inhalt immer angemessener Stimme brachte Andreas Ströbl seinen poetischen, abwechslungsreichen und mitunter launigen Text zu Ende. Der Tod ist unausweichlich, er trifft jeden, aber er kommt nicht sofort, wenn wir an ihn denken oder uns mit ihm beschäftigen.
Richard Strauss’ „Befreit“ krönte diese rund 75 Minuten und hier konnte sich der blühende Sopran Karen Leibers nun gänzlich satt entfalten. Bruchlos führte sie ihren samtig strahlenden Sopran in die Höhen, dynamisch ausgefeilt und emotional ergreifend. Schöner geht es kaum! Friedemann Braun zeigte sich als idealer Begleiter, sensibel und zurückhaltend, dabei immer in Kontakt und auf Augenhöhe, aber auch zupackend und im Vordergrund, wenn es die Partitur erforderte.
Mit dem letzten „O Glück“ entließen die Protagonisten die Besucher aus einem musikalisch delikaten, inhaltlich vielfältigen und nachdenklich machenden Abend in den sonnig-glühenden Frühsommerabend.
Irene Heidemann, 4. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at