Royal Opera House, London, Andrea Chénier
Das Wissen, dass der Dichter Andrea Chénier tatsächlich während der französischen Revolution lebte und hingerichtet wurde, macht mein Erleben mitfühlender.
Andrea Chénier
Oper von Umberto Giordano
Libretto von Luigi Illica
Regie: David McVicar
Bühne: Robert Jones
Kostüme: Jenny Tiramani
Royal Opera House, London
Aufzeichnung der Aufführung vom 11. Juni 2024
Kunst im Kino, Lahr, 14. Juli 2024
von Kathrin Beyer
Ich hatte nicht vor, über meinen Abend zu schreiben, ich wollte einfach diese wunderbare Oper genießen, ohne mir über irgendetwas, das ich noch tun muss, Gedanken zu machen.
Außerdem war es irgendwie auch ein Fake Opernabend, denn ich sah sie im Kino und dies nicht einmal als Liveübertragung, wie es üblich ist, sondern mit einer Verzögerung von mehr als einem Monat.
Aber jetzt möchte ich unbedingt darüber schreiben.
Normalerweise brechen sich meine Gefühle im Applaus, in Bravo Rufen und, wenn meine rationalen Gehirnareale durch eine emotional aufgeladene Atmosphäre ausgeschaltet sind, auch schon Mal ( selten) durch wenig damenhaftes Kreischen Bahn.
Das ist nun im Kino ziemlich albern, die Irritation meiner dortigen Mitmenschen wäre groß, so lasse ich es, obwohl ich gern alles zugleich getan hätte, um meiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen und meine innere Spannung loszuwerden. Das liegt an keiner Einzelleistung, sondern am Gesamteindruck, den diese Inszenierung von 2015 hinterließ.
Da ist diese Oper, die ich lange Zeit gar nicht auf dem Schirm hatte und die ich durch Zufall für mich entdeckte und die mich seither nicht mehr loslässt. Der Themenmix aus starker Dreiecksliebesgeschichte, französischer Revolution, menschlichem Elend, Verrat, Verlust von Menschen und Illusionen an eine gerechte Welt, ist eine perfekte Basis für ein spannendes und seelenvolles Libretto. Die Musik ist kongenial. Schade, dass Giordano nur diesen einen großen Wurf landete.
Sie (die Musik) ist bezaubernd, verwirrend (wenn sie von französischen Freiheitsliedern durchsetzt ist), gefühl- und schmerzvoll; gestern Abend nahm mir ihre Intensität tatsächlich manchmal den Atem. Das Wissen, dass der Dichter Andrea Chénier tatsächlich während der französischen Revolution lebte und deshalb hingerichtet wurde, macht mein Erleben mitfühlender.
Das Bühnenbild vermittelt von der Gesellschaft in adeligem Haus genau den vornehm-dünkelhaften Eindruck, den ich mir von der damaligen Upper Class mache.
Die Kostüme sind aufwendig und authentisch. Die Stiefel von Jonas Kaufmann z.B sind, wie in dieser Zeit modern, hinten zu schnüren, er braucht eine kleine Ewigkeit, um sie anzuziehen. Dies nur am Rande.
Kostüme und Bühnenbild bilden eine wunderbar stimmige Einheit.
Sondra Radvanovsky als Maddalena di Coigny ist ergreifend. Ihr Sopran ist ohne Schärfe, wunderbar weich und so strahlend und klar, dass sie sich scheinbar mühelos gegen das kraftvoll aufspielende Orchester und ihre Gesangspartner durchsetzt. Die Bandbreite der in ihr herrschenden widersprüchlichen Gefühle vermag sie durch Gesang und schauspielerisches Können auszudrücken. Ihre Arie „La mamma morta“ ist zum Verzweifeln schön.
Jonas Kaufmann als Andrea Chénier, Geliebter der Maddalena, kann sich in den Duetten gesanglich gegen sie nicht ganz behaupten und mühelos sieht es auch nicht aus. Aber egal ob mühevoll oder -los, er kann es noch! Vielleicht nicht immer, aber am Abend dieser Aufzeichnung kann er es! Ich denke beim Hören an Bitterschokolade, dunkel, samt, sahnig und kraftvoll. So genieße ich die Arie „Un dì all’azzurro spazio“ andächtig, Tränen kommen mir bei „Come un bel dì di maggio“, welche er kurz vor der Hinrichtung so verzweifelt und traurig singt.
Das Zusammenspiel der Beiden ist so intensiv, so erotisch, so verzweifelt, dass ich mich fühle, als würde ich in eine emotionale Urgewalt hineingezogen, der ein tragisches Ende bevorsteht.
Amartuvshin Enkhbat gibt den unglücklich in Maddalena verliebten, der Revolution zugeneigten und durch diese zu Macht und Wohlstand gekommenen Carlo Gérard.
Und wie er ihn gibt! Sein Bariton ist unglaublich. So tief, so betörend, raumgreifend und grollend. Seine Bewegungen sind eher sparsam, seine Seelenqual kann ich aus seinem Gesang heraushören und vom Gesicht ablesen.
Tief berührt hat mich die Arie der blinden Madelon ( Elena Zilio), die verzweifelt, wenn auch freiwillig, ihren Enkel an Gérard übergibt, damit er Frankreich im Kampf dient. Meine Freundin, die mich begleitet, eifrige Operngängerin, verliert hier ihren Kampf gegen die Tränen und hat ihn bis zum Ende nicht mehr gewonnen.
Alle anderen Rollen waren exzellent besetzt.
Erwähnen möchte ich noch den Opernchor, der hier einen besonderen, großen Part einnimmt und eine Glanzleistung vollbringt.
Antonio Pappano, seit 22 Jahren Musikalischer Direktor am ROH, dirigiert an diesem 11. Juni 2024 ein letztes Mal „sein“ Orchester. Dies schafft zusätzlich eine besondere Atmosphäre. Pappano, Spezialist für die italienische Oper, wurde in London sehr geschätzt, fast schon verehrt.
Sein Dirigat ist über jede Kritik erhaben. Er bereitet den Sängern, sozusagen, den roten Teppich. Das Orchester des Royal Opera House hat einen entscheidenden Anteil daran, dass an diesem Abend jene verdichtete Atmosphäre entstehen kann, die so berückend ist. Das Geschehen auf der Bühne wird beeindruckend begleitet, untermauert, dramatisiert, intensiviert.
Und nun nehme ich Sie zur letzten Szene mit.
Maddalena hat entschieden, mit ihrem Geliebten, der als Verräter zum Tode verurteilt ist, zu sterben und dank der Hilfe Gérards bietet sich ihr diese Möglichkeit. Sie ist voller Angst und Pein und Panik und gegenseitig stärken sie sich in einem wunderschönen, zu Herzen gehenden Duett. Sie werden zur Hinrichtung gerufen und Hand in Hand gehen sie dem Tod entgegen und ganz zuletzt strauchelt Andrea Chénier, geht förmlich in die Knie und Maddalena stützt ihn, und gibt ihm die Kraft, diesen schweren Weg mit ihr bis zum Ende zu gehen, würdevoll und hoch erhobenen Hauptes.
Dieses winzige Detail hat mich dann den Kampf gegen die Tränen doch noch verlieren lassen. Was für ein Abend! Ganz großes Kino! Im wahrsten Sinne des Wortes.
Kathrin Beyer, 15. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at