Evgeny Kissin © Johann Sebastian Haenel
Evgeny Kissin lässt beim Klavier-Festival Ruhr die ganze Welt auf
88 Tasten erklingen.
Ludwig van Beethoven (1770-1827) – Klaviersonate Nr. 27 e-Moll op. 90
Frédéric Chopin (1810-1849) – Nocturne Nr. 14 fis-Moll op. 48 Nr. 2; Fantasie f-Moll op. 49
Johannes Brahms (1833-1897) – Vier Balladen op. 10
Sergei Prokofjew (1891-1953) – Klaviersonate Nr. 2 d-Moll op. 14
Evgeny Kissin, Klavier
Dortmund, Konzerthaus, 4. Juli 2024
von Brian Cooper, Bonn
Evgeny Kissin bot in Dortmund einen Abend der Kontraste. Nicht im Sinne von Qualität, die war schlicht- und durchweg überirdisch, sondern im Sinne von laut und leise, hart und zart, ernst und verspielt. Er ist einer der größten Pianisten, die wir dieser Tage erleben dürfen. Und er ist gereift: Sein schon früh perfektes Klavierspiel hat nun eine weltumspannende und musikalisch anrührende Dimension erhalten, es kondensiert quasi die ganze Welt auf 88 Tasten, mit all ihren Widersprüchlichkeiten.
Schon der erste Satz der 27. Klaviersonate Beethovens ließ aufhorchen. Das war ein martialischer Beginn, vielleicht nicht jedermanns Sache, doch meine Begleiterin und ich waren sofort im Bann dieses faszinierenden Pianisten, der noch immer so jung wirkt, obwohl er inzwischen im fünften Jahrzehnt seine Runden um den Globus dreht.
Und auch das Dortmunder Rezital war in gewissem Sinne eine Weltreise. Kissin schöpfte auf so faszinierende Weise die gesamte klangliche Palette des Steinway-Flügels aus, dass man sich fragte, wie es möglich sein kann, dass ein einziger Mensch auf einem einzigen Flügel einen solch einzigartigen, geradezu sinfonischen Klang produzieren kann.
Das einleitende Werk von Beethoven hatte auch seine vielen gesanglichen Momente, namentlich im zweiten Satz, der wie reinster Schubert klang. Diese nicht ganz zu erwartende Geistesverwandtschaft zwischen Ludwig und Franz wird augenfällig, wenn sie einem so präsentiert wird wie vom großen Meister Kissin, der vor Jahren mal einen Abend in Paris mit Schuberts großer B-Dur-Sonate D 960 eröffnete (!): Die kristalline Gesanglichkeit brachte weiland das Publikum nach nur einem Takt zu Ruhe und höchster Aufmerksamkeit. (Das ging damals noch in Paris.)
Für Kantabilität sind auch Chopins Melodien prädestiniert. Das 14. Nocturne ist beileibe kein Stück zum Einschlafen. Es donnert auch hier schon mal gewaltig unter Kissins Händen. Der selbstbewusst dargelegte Kontrast zwischen laut und leise überzeugt, wie auch jener zwischen den verschiedenen Abschnitten und Tonart-Reisen in der folgenden großen f-Moll-Fantasie op. 49, in der Kissin mal wieder Geschichten erzählt, von denen man sich wünscht, sie mögen nie aufhören. Es ist ein imposanter, impressionanter, majestätischer, ein stolzer Chopin.
Es gibt Pianisten, bei denen mir völlig egal ist, was sie spielen. Pollini war so einer (von ihm hörte ich durchaus auch gern und „mit heißem Bemühn“ Stockhausen und Boulez), und Kissin ist es auch. Seinen Brahms – hier die Balladen op. 10 – habe ich schon immer geliebt. Die Akkordwucht setzte sich in der ersten Ballade fort, in der Triolenbewegungen für steten Fluss sorgten; dann wieder schien die Zeit an manch anderer Stelle stillzustehen. In der zweiten und vierten Ballade dominierte wieder diese Schubert’sche Gesanglichkeit, letztere erklang so meditativ wie ein Gebet zur Nacht. Schade, dass die scherzoartige dritte Ballade zweimal von Handyklingeln „begleitet“ wurde. Kissins Konzentration, ja Unbeirrtheit, rang uns Bewunderung ab.
Bei diesem Pianisten spricht man nicht mehr von Technik. Er ist kein Roboter, obgleich er für manche Leute in jungen Jahren durchaus etwas roboterhaftes hatte. Prokofjews zweite Sonate – ein irres, melodienreiches Stück – erklang wie eine Sinfonie: teils spielerisch, teils sarkastisch (russischer Humor!) und insbesondere im zweiten und vierten Satz mit einer so atemberaubenden Technik, dass es einem selbigen, also den Atem, verschlug. Geniale Musik, genial interpretiert.
Ein ergreifender Abend in Dortmund mit einem (bis auf die oben erwähnte Brahms-Störung) guten, aufmerksamen Publikum, das sich am Ende respektvoll und nahezu kollektiv erhob.
Wir wurden mit drei wunderbaren Zugaben bedacht: Chopins Mazurka op. 67 Nr. 4, dem Marsch aus Prokofjews Liebe zu den drei Orangen sowie dem As-Dur-Walzer von Brahms.
Dr. Brian Cooper, 6. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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