Philip Glass – Satyagraha © Sandra Then
An der Staatsoper Hannover wagt man sich an das gewaltige Werk des amerikanischen Minimal-Music-Komponisten Philip Glass und weckt beim Autor Emotionen aus der Vergangenheit
von Patrik Klein
Man war ja schon lange nicht mehr in Hannover, warum auch immer!? Als ich zufällig sah, dass Philip Glass’ Oper Satyagraha auf dem Programm stand, kamen sofort Erinnerungen hoch an die Studienzeit in Wuppertal in den 1980er Jahren. Achim Freyer hatte sich damals in Stuttgart und Wuppertal dem Thema Mahatma Gandhi, Bhagavadgita, Minimal Music und Philip Glass angenommen. Ich erinnere mich, dass die Oper in Wuppertal mit diesem Stück dermaßen herausgefordert war, dass man über zwei Jahre probte, sowohl im Orchester, im Chor und bei den Solisten, um dieses gewaltige Werk auf die Bühne zu heben. Damals erlebte ich als junger Musiktheaterfreund wohl alle 11 Vorstellungen und buchte diese Opernerfahrung ab als eine der großartigsten Momente in meinem Erlebnishorizont.
Folgerichtig war die Spannung auf Hannover mit Worten kaum zu greifen: Wie haben sich die Wahrnehmungen gegenüber 1985 verändert und wie geht man in der niedersächsischen Landeshauptstadt mit dem Stück um?
In Hannover gibt man dem interessierten Publikum nicht nur eine sonst übliche Werkeinführung, sondern sogar kurz vor Beginn im großen Haus eine Art geführte Meditation, um sich auf die spezielle Musik, mit den immer wiederkehrenden, aber leicht veränderten Phrasen, eingängigen Melodien und einer Wagner ähnlichen Dramatik, noch besser einstellen zu können.
Thematisch geht es in dieser Oper um den Kampf des berühmten indischen Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi gegen die Ungerechtigkeit und für eine gewaltfreie Form des Widerstands, die er Satyagraha nannte. Philip Glass komponierte aus dieser Grundlage eine wuchtige, inspirierende Choroper, die mit eingängiger Minimal Music und zeitlosen Versen aus der indischen Bhagavadgita zur inneren Einkehr einlädt.
Die Regie um das Team von Daniel Kramer betrachtet das Stück weniger als Biografie Gandhis, vielmehr als die Geburt eines Propheten und die Meditation über die Geburt des Festhaltens an der Wahrheit, nämlich Satyagraha. Philip Glass orientierte sich an der Mythologie dreier Heilsbringern (Leo Tolstoi, Rabindranath Tagore und Martin Luther King – in Wuppertal widmete man sich in drei Teilen genau diesen Figuren und erzählte die Geschichte um Gandhi), die sich zu einem unbekannten Zeitpunkt auf der Erde manifestieren, nämlich dann, wenn die Welt in Gesetzlosigkeit verfällt.
Gänzlich anders in Hannover: In drei Phasen beleuchtet man den hinduistischen Kreislauf der Reinkarnation in unterschiedlichen Zeitepochen: einer undefinierten, in der Gandhi durch einen kriegerischen Gott stirbt, später dann im Jahr 2048, wo die Zerstörung unserer Erde weit fortgeschritten ist und Gandhi sich gegen die wenigen erfolgreichen Ausbeuter richtet, bis zuletzt noch einmal 1000 Jahre später, als nur noch unser Trabant einige Überlebende birgt, die aus Gandhis dritter Wiedergeburt Hoffnung schöpfen. Selbst im Epilog Millionen Jahre später mit einer neuen Art hat diese wenig Entwicklung vollzogen. Hier nun befriedet Gandhi und geht schließlich ins Nirwana ein und bricht aus dem ewigen Kreislauf des leidbehafteten Lebens aus.
Die Bilder dieser Inszenierung sind gewaltig, stellen sie doch videounterlegt Krieg, Ressourcenausbeutung und den Niedergang unserer Spezies schonungslos dar. Glaubhaft gelingt die Darstellung der Flucht auf fremde Planeten und die Erlösung durch Hoffnung und Glauben.
Musikalisch ist das stark. Dem japanischen Dirigenten Masaru Kumakura gelingt es in hervorragender Manier, sowohl die unendlichen Zyklen der Wiederholung frisch und spannungsgeladen herauszuarbeiten, als auch eine Balance zu zaubern zwischen Orchester, einem Unfassbares leistenden Chor und hervorragenden Solisten. Nicht nur der indisch-australische Titelheld Shanul Sharma spielt und singt großartig, denn selten hat man ein so geschlossen agierendes Ensemble gehört und gesehen, welches nahezu wie eine Einheit sich der Thesen darstellerisch und musikalisch annimmt.
Das Publikum in der nahezu ausverkauften Staatsoper Hannover spendete über 20 Minuten lang stehend frenetischen Applaus für alle Beteiligten.
39 Jahre nach Wuppertal hätte man nun sagen können, dass das naive Wahrnehmen von damals nur eine Episode in der persönlichen Entwicklung gewesen wäre. Weit gefehlt, denn diese Musik ist zeitlos und hat emotionale Kraft, die kaum erklärbar ist: sie hat Suchtpotential!
Eine letzte Vorstellung gibt es noch am 31. Oktober 2024.
Satyagraha (besuchte Vorstellung am 20. Oktober 2024)
Oper in drei Akten von Philip Glass
Libretto nach der Bhagavadgita von Philip Glass und Constance DeJong
Regie: Daniel Kramer
Bühne: Justin Nardella
Kostüme: Shalva Nikvashvili
Licht: Andreas Schmidt
Video: Chris Kondek
Musikalische Leitung: Masaru Kumakura
Gandhi: Shanul Sharma
Miss Schlesen: Meredith Wohlgemuth
Mrs. Naidoo: Ketevan Chuntishvili
Kasturbai: Beatriz Miranda
Mr. Kallenbach: Lluís Calvet i Pey Parsi
Rustomji: Markus Suihkonen
Mrs. Alexander: Ruzana Grigorian
Arjuna: Darwin Prakash
Krishna: Markus Suihkonen (wegen Krankheit nur geschauspielert; gesungen hat Nicolas Crowley)
Der klassik-begeistert-Autor Patrik Klein ist ein leidenschaftlicher Konzert- und Opernfreak, der bereits über 300 Konzerte (Eröffnungskonzert inklusive) in der Elbphilharmonie Hamburg verbrachte, hunderte Male in Opern- und Konzerthäusern in Europa verweilte und ein großes Kommunikationsnetz zu vielen Künstlern pflegt. Meist lauscht und schaut er privat, zwanglos und mit offenen Augen und Ohren. Die daraus entstehenden meist emotional noch hoch aufgeladenen Posts in den Sozialen Medien folgen hier nun auch regelmäßig bei klassik-begeistert – voller Leidenschaft, ohne Anspruch auf Vollständigkeit… aber immer mit großem Herzen!
Klein beleuchtet kurz 45, Pittsburgh Symphony Orchestra Elbphilharmonie, 4. September 2024