Utopia Orchester mit Teodor Currentzis; Foto Patrik Klein
Das Utopia Orchester unter der Leitung des charismatischen Dirigenten Teodor Currentzis greift erneut in die Trickkiste der Faszination beim umjubelten Konzert in der Elbphilharmonie Hamburg
von Patrik Klein
Man fragt sich ja immer wieder, warum jeder Ton, der vom Podium strömt und die Synapsen des Zuhörers streichelt, diese besondere Wirkung des Utopia Orchesterklangs auslöst.
Unterhält man sich mit Musikern des Orchesters, so vernimmt man recht viel Ehrfurcht vor der Arbeit des griechisch-russischen Dirigenten. Man probe ungemein intensiv bei den Vorbereitungen, manchmal bis spät in den Abend. Tarifliche Restriktionen sind weitgehend unbekannt, denn jeder Musiker des Orchesters hat einen verpflichtenden Projektvertrag.
Auch interpretatorisch lobt man den Chef am Pult in ganzer Linie, denn er hat klare Vorstellungen einerseits, ist aber auch weitgehend offen für Impulse aus dem Orchester. So kommt es denn, dass diese besondere Fokussierung auf die Musik und die Spielfreude im Zentrum eines jeden Konzertes steht.
Am gestrigen Abend standen erneut zwei packende Werke auf dem Programm, deren Intensität und Klang diese Spielfreude des Orchesters der über 30 verschiedenen Nationen unterstrich. Die populäre Sinfonie Nr. 5 von Gustav Mahler und ein aktuelles Auftragswerk von Jay Schwartz über eine musikalische Wanderschaft im Kontext zu einem Lied von Franz Schubert.
„Passacaglia“ von Jay Schwartz ließ dann die Zuhörer quasi „über die Straße gehen“. Die unermüdliche Suche nach Ruhe, Gewaltlosigkeit und Liebe verbunden mit intensiven Sehnsüchten stand dann auch 25 Minuten im Zentrum der Komposition.
So wie Schuberts Lied „Du bist die Ruh“ Op. 59 Nr. 3 als Basis, transformiert in die Gegenwart, klang es intensiv aufrichtig und berührend vom Podium. Jay Schwartz war selbst anwesend und erklärte in der Einführung die Wirkung seiner Ideen. Sein Stück beschrieb Tanzbewegungen und Gesang in auf- und absteigenden Linien. Glissandi dominierten das Werk ohne konstante Tonhöhe, den Doppler-Effekt nachahmend, Melodien zaubernd vor dem geistigen Auge des Zuhörers. Die Sehnsüchte entstanden in Form von Bienenschwärmen, Sirenen, Autobahnlärm, dem lauten Getöse unserer Zeit. Aufgeregte Crescendi entstanden durch das taktstocklose Dirigat Currentzis’. Das riesig besetzte Orchester steigerte sich orgiastisch bis zum Paukenschlag, bevor es sich wieder beruhigte und in der Unendlichkeit fast unhörbar verebbte.
„Die Fünfte ist ein verfluchtes Werk. Niemand capiert sie!“ Dies notierte Mahler 1905 nach einer von ihm geleiteten Aufführung der Symphonie in Hamburg, wo er eine Dekade zuvor sechs Jahre seiner Karriere verbrachte.
Fokussiert auf das große Finale entwickelten sich die vier Sätze davor vom klagenden Trauermarsch zu Beginn über den tief verletzenden Aufschrei im zweiten Satz bis hin zum Universum des absoluten Friedens, dem berühmten Adagietto, bis die Musik endlich final in einer erlösenden Choralverherrlichung gipfelte.
Das Utopia Orchester entfesselte Mahlers fünfte und spielte sich in einen wahren Klangrausch mit einer Reichhaltigkeit an motivischen Zitaten, einer Fülle ungeheurer Dynamik, Exaktheit und vor allem geschlossener Einigkeit, dass man glaubte, man habe dieses Werk bislang noch nicht so frisch und detailreich gehört. Tempovariationen der nie gehörten Art schmeichelten den Gehörgängen, leiseste Zartheit machte sich breit, die Transparenz und Luftigkeit des Klangs nahm intensive Dimensionen an. Das Hornsolo im dritten Satz geriet unfassbar grandios, dass mir als Hornliebhaber fast das Herz stehen blieb. Das berühmte Adagietto kam so berührend daher, dass vielen Konzertbesuchern die Tränen in den Augen standen, bevor sich die Sinfonie in phänomenale Sphären des Finales schraubte.
Irgendwie hatte man das Gefühl, dass man es so gespielt doch „capiert“.
Als Zugabe gab es noch Bach in einer berührenden Kammerorchesterversion. Die nicht spielenden Orchestermitglieder bildeten den Chor und umarmten sich zum Abschluss. Ein musikalisches Statement von Teodor Currentzis für Frieden und Freiheit konnte kaum deutlicher sein. Berührend!
Utopia
Dirigent: Teodor Currentzis
Jay Schwartz
Passacaglia – Music for Orchestra IX / Kompositionsauftrag von Utopia Orchestra und dem Schubert Projekt Fonds
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 5 cis-Moll
Zugabe
Johann Sebastian Bach: Choral „Jesu meine Freude“ aus der Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“ BWV 147
Der klassik-begeistert-Autor Patrik Klein ist ein leidenschaftlicher Konzert- und Opernfreak, der bereits über 300 Konzerte (Eröffnungskonzert inklusive) in der Elbphilharmonie Hamburg verbrachte, hunderte Male in Opern- und Konzerthäusern in Europa verweilte und ein großes Kommunikationsnetz zu vielen Künstlern pflegt. Meist lauscht und schaut er privat, zwanglos und mit offenen Augen und Ohren. Die daraus entstehenden meist emotional noch hoch aufgeladenen Posts in den Sozialen Medien folgen hier nun auch regelmäßig bei klassik-begeistert – voller Leidenschaft, ohne Anspruch auf Vollständigkeit… aber immer mit großem Herzen!
Klein beleuchtet kurz 47: Philip Glass – Satyagraha klassik-begeistert.de, 21. Oktober 2024
Klein beleuchtet kurz 45, Pittsburgh Symphony Orchestra Elbphilharmonie, 4. September 2024
Treffender Beitrag, der meinen Eindruck im Hamburger Konzert voll trifft.
Es wäre interessant, mehr über die Musiker zu erfahren. In dem klassik-begeistert-Beitrag über das Berliner Konzert liest man die Namen von dem ersten Hornisten David Cooper, der vom LA Phil und vorher vom Chicago Symphony kommt, und vom ersten Trompeter Miro Petkov, der vom Royal Concertgebouw kommt und den ich verschiedentlich mit diesem Orchester (in der Elphi) hörte.
Allererste Sahne also, und ein Hinweis auf die Wertschätzung des Teodor Currentzis.
J. Capriolo
Ja, der Teodor, der ist einer der Leuchttürme der Szene. Schade, dass man versucht, seinen Ruf in den Dreck zu ziehen. Die ganzen Scheinheiligen wissen gar nicht, was sie damit anrichten. Die neue Zunft der Dirigenten (weiblich als auch männlich) können ihm qualitativ überwiegend nicht das Wasser reichen.
Jürgen Pathy