Mathieu Pordoy und Sabine Devieilhe; Foto Patrik Klein
Nach der musikalischen Pleite am vergangenen Wochenende in der Staatsopernpremiere des „Freischütz“ erfreut sich das geplagte Ohr nun an allerfeinster Liedkunst im kleinen Saal der Elbphilharmonie Hamburg
von Patrik Klein
Die französische Sopranistin Sabine Devieilhe, die vor einiger Zeit im Großen Saal in einer konzertanten Aufführung von Bizets Oper „Carmen“ als Micaëla mit ihrer betörend reinen Stimme und Erscheinung glänzte, brachte zusammen mit ihrem langjährigen Klavierbegleiter Mathieu Pordoy ein klug durchdachtes Programm zu Gehör, das aus einer farbenfrohen Zusammenstellung von weiblich fokussierten Kunstliedern bestand, und welches sozusagen einen Weg beschrieb, der von Frauen in der Kunst über die letzten Hektoden beschritten wurde.
Aus den vergangenen Jahrhunderten brachte sie romantische Wiegenlieder mit den typischen Frauenidealen, Themen wie Ruhe, Traum, Liebe und Nacht u.a. von Franz Liszt, Franz Schubert und Richard Strauss und lotete im zweiten Teil des umjubelten Konzertes konträre Perspektiven von Frauencharakteren bei Richard Strauss, den französischen Komponistinnen Lili Boulanger, Germaine Tailleferre und Cécile Chaminade aus.
Die vielfach ausgezeichnete aus der Normandie stammende auch Cello spielende Sopranistin, die mehrfach als „Opernsängerin des Jahres“ betitelt wurde, zahlreiche Preise gewann und Rollen an bedeutenden Opernhäusern inne hatte, wie z.B. die Königin der Nacht in Mozarts „Zauberflöte“ oder Amina in Bellinis „La Sonnambula“, ist zu dem ebenfalls regelmäßig als bedeutende Konzertsängerin unterwegs, was sie an diesem Abend eindrucksvoll unter Beweis stellte.
Gesangstechnisch fiel dem geübten Zuhörer auf, dass häufig zu hörende opernhafte Interpretationen und gesteigerte Liedfinals von ihr viel behutsamer und differenzierter, ja zartfühlender gewichtet wurden. Man spürte förmlich, wie sie sich im Einklang befand mit dem bravourös begleitenden und auch solistisch aktiven Pianisten Mathieu Pordoy, der ebenfalls die Feinheiten betonte bzw. die Vehemenz zurücknahm, sich in jeder Phrase, jeder Zeile und jeder Silbe mit allerhöchstem Augenmerk widmete. Leichtigkeit, Transparenz und Ausdruck konnten somit ganz ungewöhnlich und voll Hörgenuss zur Geltung kommen.
Die „Sage von der Loreley“ an den wilden Ufern des Rheins von Franz Liszt nach dem berühmten Gedicht von Heinrich Heine eröffnete den ersten Teil des Programms. Die Wogen des Wassers und die Frau als Opfer der Begierde des Mannes standen unter der finessenreichen Interpretation der beiden Protagonisten. Bei Franz Schuberts „Du bist die Ruh“ wirkten die wie in einem Wiegenlied immer wiederholten identischen Tonreihen unter der berührend souveränen Stimmführung der Sopranistin weder schlicht noch einschläfernd.
Mit eingefügt in den folgenden Liedreigen nächtlicher Träumereien klassischer Komponisten kamen dann drei nichtklassische Stücke zur Geltung: das hebräische Liebeslied, welches heute bereits in Israel zum Volkslied mutierte „Erev schel Schoschanim“ (Abend der Rosen) von Josef Hadar, eine Geschichte über eine kleine traurige Katze als französisches anonymes Kinderlied, bei dem der Pianist mit der Solistin um die Wette miaute und ein kosakisches Wiegenlied von einem weiteren anonymen Komponisten.
Ein weiteres Highlight war dann ein klaviersolistischer Part des großartig mitatmenden Pianisten, der eine Nocturne von Franz Liszt zum Besten gab, die sowohl im Ton und Licht schließlich in absoluter Dunkelheit endete.
Im zweiten Teil folgte dann die konträre Gegenüberstellung der klassischen Sichtweise von männerdominierenden Kompositionen mit treu hingebungsvollen Frauenbildern zu den sich dagegen auflehnenden Sichtweisen von Lili Boulanger und anderen meist französischen Komponistinnen. Lustvolle impressionistische Klänge, selbstbewusste Frauenportraits, Rufe nach Freiheit und Unabhängigkeit, Aufdeckung und Anprangerung der Lebenssituationen standen im Zentrum der gesanglichen Interpretation.
Krönender Abschluss der berührenden Liedauswahl und der meisterhaften Darbietung waren dann zwei Hommagen an die Chanson Legende Édith Piaf einmal in Form einer herrlich vorgetragenen Klavierimprovisation von Francis Poulenc und Marguerite Angèle Monnots „Hymne à l’amour“, die von Édith Piaf oft selbst interpretiert an ihren Geliebten gerichtet gewesen war, der trauriger weise bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam. Céline Dion hatte sie auch zuletzt bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris gesungen.
Das Hamburger Publikum war dermaßen aus dem Häuschen, dass es den beiden Protagonisten drei Zugaben entlockte, die den Saal schließlich zum Kochen brachten. Mit einer improvisierten Nacht im Hühnerstall, Faurés „Au bord de l’eau“ und Poulencs „Voyage à Paris“ machte man sich geflasht und überglücklich in die eiskalte hanseatische Nacht.
Patrik Klein, 21. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Sabine Devieilhe, Sopran
Mathieu Pordoy, Klavier
Franz Liszt (1811–1886) Die Loreley S 273/2 (1841 / 1854–56)
Josef Hadar (1926–2006) Erev schel Schoschanim (vor 1957)
Anonymous Le petit chat triste
Franz Schubert (1797–1828) Du bist die Ruh D 776 op. 59 (1823)
Anonymous Berceuse cosaque
Franz Schubert Nacht und Träume D 827 (1825)
Franz Liszt En rêve: Nocturne für Klavier S 207 (1885)
Richard Strauss (1864–1949) Meinem Kinde / aus: Sechs Lieder op. 37 (1897) Die Nacht / aus: Acht Gedichte op. 10 (1885)
Franz Liszt Oh! quand je dors S282/2 (1842 / 1849)
Edvard Grieg (1843–1907) Ein Traum / aus: Seks sange (Sechs Lieder) op. 48 (1884–88)
Richard Strauss Kornblumen / aus: Mädchenblumen op. 22 (1888)
Lili Boulanger (1893–1918) Elle était descendue au bas de la prairie / aus: Clairières dans le ciel (1914) Elle est gravement gaie / aus: Clairières dans le ciel
Richard Strauss Mohnblumen / aus: Mädchenblumen op. 22
Lili Boulanger Un poète disait / aus: Clairières dans le ciel
Richard Strauss Epheu / aus: Mädchenblumen op. 22
Cécile Chaminade (1857–1944) Ma première lettre (1893)
Germaine Tailleferre (1892–1983) Non, la fidélité Mon mari m’a diffamée Les trois présents aus: Six chansons françaises (1929)
Francis Poulenc (1899–1963) Improvisation No. 15: L’hommage à Édith Piaf für Klavier (1959)
Darius Milhaud (1892–1974) Tay toy, babillarde arondelle / aus: Chansons de Ronsard op. 223 (1940)
Marguerite Angèle Monnot (1903–1961) Hymne à l’amour (1949)
Der klassik-begeistert-Autor Patrik Klein ist ein leidenschaftlicher Konzert- und Opernfreak, der bereits über 300 Konzerte (Eröffnungskonzert inklusive) in der Elbphilharmonie Hamburg verbrachte, hunderte Male in Opern- und Konzerthäusern in Europa verweilte und ein großes Kommunikationsnetz zu vielen Künstlern pflegt. Meist lauscht und schaut er privat, zwanglos und mit offenen Augen und Ohren. Die daraus entstehenden meist emotional noch hoch aufgeladenen Posts in den Sozialen Medien folgen hier nun auch regelmäßig bei klassik-begeistert – voller Leidenschaft, ohne Anspruch auf Vollständigkeit… aber immer mit großem Herzen!
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