Teodor Currentzis und das SWR Sinfonieorchester; Foto Patrik Klein
Dienstagabend in der Elbphilharmonie Hamburg, 12. Dezember 2023
Teodor Currentzis – der Name scheint heutzutage schon viele zu provozieren – Wieso darf er im Westen überhaupt noch auftreten, obwohl er sich nicht ablehnend zu Putins Angriffskrieg äußert?
Gerade ganz aktuell ist seine Bemerkung über das gestern Abend zu Gehör gebrachte Adagio aus Mahlers Sinfonie Nr. 10 in vieler Munde („Diese Sinfonie ist das eigentliche Zeugnis für die zeitgenössische Musik. Deshalb hatte ich die Idee, dieses Adagio zu spielen, weil es ein großartiges Stück ist, das mir sehr viel bedeutet“) – Sie zerreißen ihn wieder, seine Ansichten, seine Aussagen, seine Arroganz, seinen Habitus und ganz besonders seine musikalischen Interpretationen. Ich nehme es so wahr, ohne es zu kommentieren oder zu bewerten.
Mich interessiert nur die Musik. Ich habe ihn schon sehr häufig erlebt mit MusicAeterna oder dem SWR Symphonieorchester. Alle Konzerte, von Verdis konzertanter Traviata bis zum Brahms Requiem hatten für mich etwas ganz besonders Gemeinsames: Die Musik weckte in mir immer starke Emotionen und sie berührte!
Und das tat sie an diesem Dienstagabend erneut: Mahlers schmerzhaft schönes Adagio aus der 10ten Sinfonie stand vor der Uraufführung von vier zeitgenössischen Auftragswerken des SWR: Das Orchester in riesiger Besetzung – das Podium voll bis auf den letzten Platz. Beinahe 100 Musiker, 10 Kontrabässe, riesiges Schlagwerk und Celesta. Vier Komponisten sollten das Adagio seiner Unvollendeten sozusagen weiterentwickeln. Currentzis dirigierte diese Stücke beinahe pausenlos attacca, als wüchsen sie aus dem Anfangsstück heraus.
Da wurde das Ende mit dem Verstummen des Adagio in „La commedia“ fortgeführt, Mahlers „Schreckensakkord“ zitiert. Das Orchester wirkte wie ein riesiges Akkordeon, wie eine riesige Orgel, die hier im Saal hinter der Bühne eingebaut ist, aber stumm war. Mächtige Klänge mündeten in eine Art Trauerritual. Wucht und Zartheit standen sich diametral gegenüber.
Ein einzelner Ton bereitete den Übergang zu Philippe Manourys „Rémanences – Palimpseste“ vor. Das klang plötzlich wie Mahler, aber noch dichter und eindringlicher. Currentzis dirigiert taktstocklos, aber mit allen Fingern zählend, gestikulierend und dann auch jede Faser seines Körpers einsetzend.
Im nächsten Stück „Echographie 4“ wurde es dann wirklich modern, denn es kamen Notenblätterrascheln, Blechplatten, schwingende Sägeblätter und eine gestopfte Tuba zum Einsatz. Es klang rätselhaft und durchdrungen von Traurigkeit, manchmal wie eine Spieluhr oder eine Sirene.
Glissando als Spieleffekt der Streichinstrumente dominierte das letzte Stück des Abends, das sich mit dem Tod und der Todessehnsucht Mahlers beschäftigte. Kontinuierlich glitten Finger über Geigen, Celli, Bässe und Bratschen, veränderten die Tonhöhe und den Klang. Ein Solo Horn hauchte aus dem linken Off dazu. Die Musik schwang sich auf wie zu einem Inferno, einem Bienenschwarm oder einer Dampflok, bis sie wieder in einer absoluten Beruhigung die Nerven kühlte.
Das Publikum in der ausverkauften Elbphilharmonie bejubelte den pausenlosen Abend.
SWR Symphonieorchester
Dirigent Teodor Currentzis
Gustav Mahler
Adagio / aus: Sinfonie Nr. 10
Alexey Retinsky
La commedia
Philippe Manoury
Rémanences-Palimpseste
Mark Andre
Echographie 4
Jay Schwartz
Theta
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Der Klassik-begeistert-Autor Patrik Klein ist ein leidenschaftlicher Konzert- und Opernfreak, der bereits über 300 Konzerte (Eröffnungskonzert inklusive) in der Elbphilharmonie Hamburg verbrachte, hunderte Male in Opern- und Konzerthäusern in Europa verweilte und ein großes Kommunikationsnetz zu vielen Künstlern pflegt. Nicht immer nimmt er sich Pressekarten im offiziellen Modus, sondern lauscht oder schaut privat, zwanglos und mit offenen Augen und Ohren. Die daraus entstehenden meist emotional noch hoch aufgeladenen Posts in den Sozialen Medien folgen hier nun auch regelmäßig bei Klassik-begeistert – voller Leidenschaft – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – aber immer mit großem Herzen!
Klein beleuchtet kurz 5: Der fliegende Holländer Staatsoper Hamburg, 10. Dezember 2023
Klein beleuchtet kurz 4: The Philadelphia Orchestra klassik-begeistert.de, 4. Dezember 2023
Also mich hat es weggehauen, diese Präzision, dieses in vielerlei Hinsicht körperhafte Werk in der Vollkörper-Interpretation von Currentzis. Wow.
Keine Ahnung, was es als Zugabe der von C. angekündigten Chamber Music noch gab: Meiner Frau und mir hatte es gereicht, wir fuhren flugs und still nach Hause und haben noch schweigend ein kleines Glas Wein getrunken und dem Nachhall dieses Werkes gelauscht. In Stille.
Stefan Schaufel
Lieber Herr Schaufel,
danke für Ihren Beitrag. Die Zugabe war von Alban Berg, Lyrische Suite… mir ging es aber genau wie Ihnen. Ich bin genußvoll von dannen.
Beste Grüße,
Patrik Klein