Kommentar am Beispiel des Musikvereins Wien: Opfern wir die Kunst zugunsten einer Zensurpolitik?

Kommentar von Herbert Hiess – zur Absage von Sergej Prokofjews Kantate „Alexander Newskij“  klassik-begeistert.de 17. Oktober 2022

Foto: Musikverein Wien © FRASHO / franks-travelbox

Kommentar von Herbert Hiess, Wien,

zur Absage von Sergej Prokofjews Kantate „Alexander Newskij“ op. 78,
die am 23. Oktober 2022 im Großen („Goldenen“) Saal im Musikverein Wien,
 aufgeführt hätte werden sollen

Wer von uns kennt nicht das lustige Spiel „Foppen“, wo jeder Teilnehmer versucht, seine Karte so schnell wie möglich loszuwerden. So ein Gefühl hatte man bei der Recherche bezüglich des „Absagens“ des genialen Werkes „Alexander Newski“, das am 23. Oktober 2022 im Musikverein aufgeführt hätte werden sollen.

Nun – wie es oft so ist – hörte man Gerüchte, dass sich angeblich der Chor (Wiener Singverein) geweigert hätte, das Werk einzustudieren. Auf eine Anfrage via Facebook vernahm man nur unerträglich lautes Schweigen.
Die Kontaktaufnahme beim Management des Dirigenten Alain Altinoglu und des HR-Orchesters erweckte den Eindruck à la „Fopperei“. Schnell schoss man dort den Ball oder die Karte von sich und verwies auf die Gesellschaft der Musikfreunde und deren Intendanten, Dr. Stephan Pauly.

Man erzählte, dass Dr. Stephan Pauly eine Ansprache vor dem Konzert halten und es danach eine Diskussionsrunde mit einer Musikwissenschaftlerin geben werde.

Dr. Pauly ist ein sehr gebildeter und freundlicher Mann, und man kann sich vorstellen, in welchen Rechtfertigungsnöten er sich da befindet.

Der Musikverein veranstaltet doch vom 15. bis 23. Oktober 2022 das Festival „Musik im Umbruch. Russische Komponisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Es ist daher tatsächlich befremdlich, dass ein so geniales Werk über einen „Kriegshelden“ einfach so aus dem Programm genommen wird. Wenn man die Geschichte über „Newski“ liest, erfährt man, dass die berühmte „Entscheidungsschlacht am Eis“ eine Verteidigungsschlacht war und kein Angriffskrieg.

Aber das nur so nebenbei; man hat eines der genialsten Werke der Musikliteratur wegen politischer Befindlichkeiten einfach so aus dem Programm genommen und durch Schostakowitschs 5. Symphonie ersetzt. Was beinahe wie ein Treppenwitz klingt, dass der russische Komponist viele kriegsorientierte Werke komponiert hat.

Übrigens dirigierte Claudio Abbado, der geniale Dirigent und Humanist, 1990 dieses Werk im Wiener Konzerthaus – da sogar noch mit optischer Aufbereitung des großartigen Filmes von Sergej Eisenstein. Die Regie führte damals Abbados Sohn Daniele Abbado. Also sah auch Claudio Abbado kein Problem darin, dieses unvergleichliche Werk zu dirigieren.

Wenn nun der Wiener Singverein tatsächlich mit seiner Weigerung dieses Werk einzustudieren, die Ursache der Absage war, dann ist das eines semiprofessionellen Chores mehr als unwürdig und steigert nicht gerade den Ruf dieses Ensembles.

Es bedarf sicher vieler schöner und beschwichtigender Worte darüber – da
es eine „gesichtswahrende“ Argumentation sein wird, wird man den tatsächlichen Grund wahrscheinlich nicht erfahren. So schlimm der Krieg zwischen Russland und Ukraine ist; es gibt keinen einzigen Grund, ein solches Werk aus dem Programm zu nehmen. Und gerade der letzte Satz aus „Alexander Newskij“ ist keine Hymne an den Krieg, sondern nur eine Verherrlichung eines Freiheitshelden bei der Verteidigungsschlacht.

Die Frage ist, wo geht es mit der Zensurpolitik weiter? Wird bald Tschaikowskys 1812-Ouvertüre aus dem Programm genommen? Wird Schostakowitschs „Leningrader“ abrupt entfernt? Darf Beethovens „Wellington“ noch im Goldenen Saal erklingen?

Fragen über Fragen. Wer das Werk in der großartigen Abbado-Produktion mit Film erleben will, muss auf das YouTube-Video https://www.youtube.com/watch?v=ocZCfXJcMAM zurückgreifen. Wenn auch nicht technisch hervorragend; allemal ein Eindruck von dem großartigen Erlebnis damals.

Herbert Hiess, 18. Oktober 2022,
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

3 Gedanken zu „Kommentar von Herbert Hiess – zur Absage von Sergej Prokofjews Kantate „Alexander Newskij“
klassik-begeistert.de 17. Oktober 2022“

  1. Dieser Kommentar weckt meinen Widerspruch!
    Ich schätze den Komponisten Prokofjew persönlich sehr, wenn es unter seinen Werken auch eher uninspirierte gibt. Die bewusste Kantate aber als eines der genialsten Werke der Musikliteratur zu bezeichnen halte ich nicht für angemessen. Bitte die Kirche im Dorf lassen!
    Dieser Satz über Schostakowitsch stört mich aber noch viel mehr:
    …dass der russische Komponist viele kriegsorientierte Werke komponiert hat.
    „Kriegsorientiert“? Ein absolutes Unwort, speziell wenn man um Schostakowitsch’ pazifistische Haltung weiß.
    Ich lehne die Verbannung von Werken aus dem Konzertsaal aus ideologischen Gründen auch kategorisch ab, aber bei der Argumentation dagegen sollte man nicht so leichtfertig mit musikhistorischen Fakten umgehen!

    Peter Sommeregger

    1. Servus Peter,
      danke für deine Antwort.
      Natürlich erweckt das Widersprüche; ich halte in der ganzen Dramaturgie die Kantate einfach für genial.
      „Kriegsorientiert“ hin oder her; natürlich wissen wir alle, dass Schostakowitsch ein Pazifist war. Für mich bedeutet das Wort auch nicht, dass er ein Befürworter der Kriege war.

      Und semantische Diskussionen sind sowieso fehl am Platz.

      Weißt du was ich fürchte? Dass eine Art „Index“ gegen Kunstwerke und Künstler einreißt. Da bin ich ich sehr einfach gestrickt.
      Und eine so große Diskussionsrunde einzuberufen beweist schon irgendwo einen Rechtfertigungsnotstand.
      Für mich ist die Sache nämlich sehr einfach. Der Fehler ist, ein Kunstwerk aus irgendwelchen Gründen abzusetzen!

      Das nur meine banale Meinung.
      Herbert

    2. Dear Peter, the notion of Shostakovich as a great pacifist is exaggerated, as is the legend that he was a martyr to the regime. He was friends with the brutal bloody „Red“ General Tukhachevsky (until he was shot in 1937). And just look at the photograph of Shostakovich examining military conducting cadets! This was already in the 1950s. He wasn’t a war hawk, of course. But neither were the other composers. They all said: „We are for peace“. But all or almost all faithfully served the aggressive Soviet regime. Shostakovich was the most important Soviet composer, he held high administrative positions and had joined the Party to do so. If anyone was a pacifist, it was Prokofiev. The ideas of the Church of Christian Science were close to his heart. Prokofiev was never part of the Soviet establishment, and he was not an official.

      Andrey Tikhomirov

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