Konzert für Hamburg
Krzysztof Urbanski, NDR Elbphilharmonie Orchester
Behzod Abduraimov, Klavier
Sergej Rachmaninow, Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43 für Klavier und Orchester
Antonin Dvorák, Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 „Aus der Neuen Welt“
Großer Saal, Elbphilharmonie
Der zweite Satz aus der Sinfonie Nr. 9 „Aus der Neuen Welt“ von Antonin Dvorák ist mit das Schönste, was ein Komponist je zu Papier gebracht hat. Wer die Freude hat, dieses Werk zu hören, ist ein glücklicher Mensch, zumal noch dazu im Großen Saal der Elbphilharmonie im Hamburger Hafen.
Das Largo offenbart die Sehnsucht, die Dvorák, 1893 in New York weilend, für seine Heimat Böhmen spürte. Es lässt gleichzeitig die Grandesse spüren, die der Tscheche in seiner neuen Heimat Amerika fühlte, die er bereits zwei Jahre später für immer wieder verließ. Dieses Largo ist eine magische Komposition, die eines phantastischen Dirigenten und eines phantastischen Orchesters bedarf.
Der Pole Krzysztof Urbanski ist mit seinen 34 Jahren bereits ein phantastischer Dirigent und eine Zier als erster Gastdirigent für das NDR Elbphilharmonie Orchester, das Residenzorchester der Elbphilharmonie. Wie schön, umsichtig, zart und gefühlvoll Urbanski zu dirigieren pflegt, hat klassik-begeistert.de bereits am Neujahrstag im Wiener Konzerthaus erlebt, wo der Pole mit den Wiener Symphonikern, dem Wiener Singverein und vier Solisten eine phantastische 9. Symphonie ablieferte: von Dvoráks Vorgänger und Inspirateur Ludwig van Beethoven.
Der berühmte langsame zweite Satz Beethovens gelang Urbanski in Wien etwas besser als der langsame, wehmütige, hochsensibel zu dirigierende zweite Largo-Satz Dvoráks. Für den Geschmack von klassik-begeistert.de zelebrierte Urbanski das ganze Meisterwerk einen Tick zu schnell, aber er ist ja auch ein flotter Typ: Läuft kurz vor Beginn der Aufführung noch einmal zur Eingangstür zum Assistenten, damit dieser schnell noch einmal das Pult mit den Noten wegschafft, damit er, der junge Meister, frank und frei dirigieren könne.
Ja, flott und fesch war er ohnehin, der 34-Jährige aus Pabianice, der mit beigefarbenen Converse-Turnstiefeln, einer sehr gepflegten dunklen, einmal umgeschlagenen Jeans, einem grauen Jackett und einem an den Ärmeln umgeschlagenen weißen Oberhemd seinem Abendwerk nachging. Der Haarschnitt war auch sehr trendy, der würde dem ehemaligen Fußballstar David „Becks“ Beckham sicher gefallen.
Pan Urbanski kommt viel herum in der Welt: Er ist noch Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Trondheim Symfoniorkester und seit 2011 parallel zu seinem NDR-Job Musikdirektor des Indianapolis Symphony Orchestra. Der junge Ausnahmedirigent hat schon mit den Berliner Philharmonikern und dem London Symphony Orchestra zusammengewirkt und tourt in diesem März mit den NDR-Musikern durch Japan.
Urbanski dirigiert graziös, delikat, unaufgeregt. Sein Stil ist hanseatisch-gelassen wie wienerisch klassisch. Urbanski malt Musik. Er dirgiert in Bögen und Figuren und geht, wenn es sein muss, auch mal in die Hocke.
Das Tempo war schon immer Geschmackssache unter den Dirigenten – und da ist Krzysztof Urbanski moderner und weltgewandter als der verstorbene rumänische Übervater Sergiu Celibidache, der bei seinen Dirigaten bisweilen während der Arbeit fast inne zu halten schien. Also bringt der junge Pole einen langsamen Satz nicht ganz so langsam und einen schnelleren Satz noch schneller zu Gehör. Auch in Wien war seine Neunte bereits bombastisch schnell erklungen – so schnell wird sie zu Beethovens Zeiten sicherlich nie erklungen sein. Und auch Dvorak dürfte sich im Himmel ein wenig über das flotte Tempo gewundert haben.
Die Streicher des NDR Elbphilharmonie Orchesters waren bei dieser ihnen bestens vertrauten 9. Symphonie des böhmischen Meisters vollkommen bei der Sache, unisono transparent und sehr um Wohlklang bemüht. Besonders stark waren die Hörner, allen voran das erste Horn. Aber auch die anderen Holzbläser, vor allem die Oboen, und auch die Blechbläser machten einen super Job – sie müssen sich über Arbeitsmangel derzeit nicht beschweren.
Etwas schwächer, ja, mit Verlaub, unsicherer und zaghafter agierten die Geigen und Bratschen im ersten Teil: bei Sergej Rachmaninows „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“. Hier waren sie teilweise im Parkett, Bereich D, Reihe 2, Platz 7, kaum zu hören, wenn der hervorragend und ganz sicher spielende usbekische Pianist Behzod Abduraimov, 26, wie ein junger Gott die Tasten seines Steinway-Flügels bearbeitete.
Abduraimov bekam wie Urbanski und das Orchester sehr großen Applaus vom Publikum dieses „Konzertes für Hamburg“. Diesem Abduraimov gehört zweifelsohne die Zukunft. Nicht viele Pianisten können das höllisch schwere Werk Sergej Rachmaninovs, vom russischen Meister 1934 höchstpersönlich in Baltimore präsentiert, so ausdrucksvoll und fehlerfrei zelebrieren.
Das NDR Elbphilharmonie Orchester sollte das Piano und Pianissimo noch weiter ausloten – da geht noch mehr, aber das braucht Mut und Gelassenheit. Und auch im Forte können alle Musiker noch mehr aus sich herauskommen – oder setzt die von dem Akustiker Yasuhisa Toyota installierte „Klanghaut“ der Klangwucht hier Grenzen?
Dass im leisen wie im lauten Bereich noch mehr geht, haben das Chicago Symphony Orchestra und die Wiener Philharmoniker während ihrer Gastspiele anlässlich der Eröffnungswochen eindrucksvoll bewiesen.
Dass das Publikum – darunter einer der besten Schauspieler Deutschlands: der in Hamburg lebende Ulrich Tukur („Rommel“, „Grzimek“, „Aus dem Nichts“)– zwischen den Dvorak-Sätzen laut und zahlreich zu klatschen pflegte, zeugt davon, dass viele bislang eher klassikabstinente, ja möglicherweise sogar klassikphobe, vor allem an der Architektur der Elbphilharmonie interessierte Menschen die Gunst der Stunde nutzten, für sechs bis 18 Euro ein phantastisches Konzert zu erleben – und dafür weniger Geld auszugeben als für einen drittklassigen Hollywood-Streifen in einer kapitalistischen Kinolandschaft mit Popcorn und Cola-Bespaßung.
Und diese Menschen haben die Musiker gewonnen. Sie werden, wenn es nicht allzu komplizierte und teure Werke gibt, wiederkommen. Bei vielen Zuhörern leuchteten während der Aufführung die Augen, viele Münder standen offen. Sehr viele Menschen von jung bis alt, sind an diesem Abend vom Klassik-Virus befallen worden.
Das ist unbezahlbar. Dafür herzlichen Dank, liebe Musiker. Dzienkuje bardzo, pan Urbanski! Vielen Dank, liebe NDR-Musiker! Spacibo, lieber Klaviervirtuose Abduraimov. Und herzlichen Dank, lieber Herr Generalintendant Christoph Lieben-Seutter, dass Sie sich durchgesetzt haben, und den Hamburger Steuerzahlern, die 783 Millionen Euro für diesen Prachtbau ausgegeben haben – und damit rechnerisch rund 1000 Euro pro Nase –, dieses Geschenk gemacht haben. Es kommen noch genug Touristen in die Elphi.
Dass eine Dame aus Pinneberg (Schleswig-Holstein) in Reihe 10, Parkett, Platz 1, während des Konzertes mit ihrem Handy fotografierte und dessen Auslöser im ganzen Saal zu hören war, gehört bei solchen Konzerten zu den Dingen, die ein Klassik-Begeisterter – leider – in Kauf nehmen muss. Hier könnte die Elbphilharmonie ihre hanseatische Zurückhaltung aufgeben, und das Publikum vor dem Konzert auf Deutsch und Englisch darauf hinweisen, dass Fotografieren und Filmen und Reden während der Vorführung in diesem hochsensiblen Saal, wo jedes Auswickeln eines Hustenbonbons zu hören ist, bitte zu unterlassen ist.
Dies ist ja schließlich ein Konzerthaus und kein Wohnzimmer.
Andreas Schmidt, 5. Februar 2017
Klassik-begeistert.de